: Der fatale Hang zur Klamotte
■ Eigentlich verspottete Leonard Bernstein mit seiner Oper „Candide“ die Hexenjagd der McCarthy-Ära. In einer Bremerhavener Einstudierung zum Spielzeitauftakt hat die Satire jetzt selbst den Mief der 50er Jahre angenommmen
Ein weithin unbekanntes Stück US-amerikanisches Musiktheater zum Auftakt der neuen Spielzeit in Bremerhaven: Statt mit einem Mozart, Verdi oder Puccini mit Leonard Bernsteins „Candide“ anzufangen, ist eine mutige Entscheidung. Aber ist es auch eine glückliche Wahl? Wer den Namen Bernstein hört, denkt an die „West Side Story“, aber wer diesen einmaligen Wurf zum Maßstab macht, wird von „Candide“ enttäuscht sein.
Bernstein wagt sich an eine große Vorlage. Er bezieht sich auf Voltaires philosophisch-satirischen Roman „Candide“, in dem Utopien, Heilslehren und jedes Paradies auf Erden als Illusion entlarvt werden. Candide ist ein argloser Junge, der stets an das Gute glaubt und bei seinen Reisen durch die alte und die neue Welt von einer Katastrophe in die nächste schlittert. Er überlebt mörderische Kriegs-Gemetzel, Schiffbrüche, Erdbeben und ein Autodafé, bis er seine lang gesuchte Geliebte Cunegonde wiederfindet und zu der Erkenntnis kommt, dass es besser sei, den „eigenen Garten zu bestellen“, sich also ans Machbare zu halten.
Mit dieser intellektuellen „Rakete des Spottes“ (Heine über Voltaire) richtete Bernstein Mitte der 50-er Jahre seinen kritischen Blick auf McCarthys Hexenjagd, auf den vergangenen großen Krieg und neue Weltkriegs-Gefahren sowie auf den blinden Optimismus des american way of life („Life is happiness“). Bernsteins Candide ist ein naiver US-amerikanischer good guy des 20. Jahrhunderts, dem der Komponist Melodien von wunderbar amerikanischem Schmelz auf den Leib geschrieben hat.
Dieser lyrischen Partie, die Christoph Kayser mit keiner großen, aber einer angenehm warmen Stimme souverän meistert, stellt Bernstein eine wilde Mixtur aus Opern- und Operetten-Parodien, aus Walzer- und Tango-Klängen, aus Cinemascope-Sound und sakraler Chormusik zur Seite. Aber er zitiert nicht einfach, er rührt die diversen musikalischen Stile in einen US-amerikanischen Schmelztiegel und verwandelt sie in eine originäre Bernsteiniade.
Und dennoch: Weder die Musik noch der verwirrend vielfältige Plot tragen über drei Stunden. Bremerhavens neuer General-Musikdirektior Stephan Tetzlaff und der Berliner Gastregisseur Alexander Herrmann hätten gut daran getan, kräftig zu schneiden und zu kürzen, um dieses Werk langfristig für die Gegenwart zu retten. Tetzlaff versucht es stattdessen mit werkgetreuer Wiedergabe und einem exakten Dirigierstil, mit dem er das Orchester von Anfang an bestens im Griff hat. Aber Feuer und ein wenig mehr Temperament sind ihm noch zu wünschen.
Alexander Herrmann flüchtet in ein temporeiches Spiel mit vielen Slapstick-Elementen und permanentem Kostümwechsel (ein Lob dem Kostümbildner Stephan Stanisic). Ein großer Voltaire-Kopf kann auseinander gefahren und als vielfältiges Requisit verwendet werden. Eine Hand voll Stühle und lange Tuchbahnen ersetzen Schiffe, Meer und Segel (Bühne: Ekkehard Kröhn). Die Solisten und der große Chor müssen sich jederzeit heftig bewegen. Auf der schlecht bespielbaren Ersatzbühne des Stadttheaters – in der ehemaligen US-amerikanischen Kaserne – ist diese Lösung verständlich. Aber es bleibt eine Notlösung mit einem fatalen Hang zur Klamotte, gegen die auch Günter Pirow als Conférencier-Erzähler in der Maske des alternden Voltaire mit spitzen Kommentaren nicht ankommt.
Der überstrapazierte Klamauk erinnert unfreiwillig an die piefig-verstaubten 50er Jahre. Alexander Herrmann scheint die Botschaft der komischen Oper nicht ernst zu nehmen, er verwechselt Komik mit biederer Klamotte. So wird Bernsteins Candide nicht aus der Museums-Vitrine gerettet, obwohl Orchester, Chor und Solisten hochpräsent sind, obwohl Eun-Joo Park als Cunegonde eine wahnwitzige Koloraturarie bravourös hinlegt und Michael Kupfer, ein neue, viel versprechende Stimme im Opern-Ensemble, sich nebenbei als glänzender Komiker erweist: Er gibt dem dekadenten Adligen Maximilian rücksichtslos tuntig jene schrille Grazie, die diesem Stück deftiger Satire gut tut: wenn schon schrill, dann richtig. Hans Happel
Weitere Aufführungen in der Carl-Schurz-Kaserne, Weddewarden: 20., 22., 28. September, 14. und 28. Oktober um 19.30 Uhr (Tel.: 0471/49001)
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