■ Briefe eines Eingeschlossenen – Letzter Brief
: Nie befinden Sie sich hier, immer dort

Niemand kann ihm helfen: Dietmar sitzt seit Wochen im Keller seines Hauses fest, umgeben von teurem Wein und Eingemachtem. Nur seine Briefe dringen nach außen – und manchmal auch nach innen ...

Lieber Dietmar,

Du hast jetzt – Moment, lass mich rechnen - sechsundzwanzig Tage in diesem Raum verbracht. Zwei Tage musst Du noch aushalten. Zweimal schläfst Du noch, dann steht das Christkind vor der Tür ... oder wie ging dieses Lied? Müsste sich das nicht reimen?

Auch wenn Deine Betrachtungen über die Lebensqualität innerhalb dieser vier Wände sich noch so zynisch anhören mögen, Du hast diesen Raum auf eine Weise liebgewonnen – während er Dir auf andere Weise verhasst war. Alles in diesem Raum ist paradox. Die Zeit ist zugleich schnell und langsam vergangen. Noch nie ist es Dir so schwergefallen, zu leben – und noch nie so leicht. Es gab nichts zu tun und doch gab es tausend Dinge, die nach Erledigung drängten. Es gab nichts zu tun: Du musstest warten. Aufstehen und Essen und Dich entleeren und schlafen und denken und fühlen und träumen, jeden Tag und jede Nacht. Und da redest Du davon, dass es nichts zu tun gab? Was gibt es denn außerhalb dieses Raumes an jedem Tag und in jeder Nacht zu tun? Du konntest Dich bewegen, Du konntest atmen. Du musstest Dich nicht um einen Rahmen kümmern, der Rahmen war Dir vorgegeben.

Ich muss sagen, dass ich ein wenig stolz auf Dich bin. Du hast weitaus weniger gejammert, als ich es zunächst befürchtet hatte. Du hast Deine unmittelbaren Pflichten erledigt, Du hast geschlafen und getrunken und gegessen und dich entleert und geatmet. Aber hattest Du wirklich eine Wahl? Du hättest Dich mit Deinem Gürtel erhängen können. Du hättest das Essen oder das Trinken verweigern oder Dich zu Tode saufen können. Du hättest eine Weinflasche zerbrechen und Dir mit ihren Scherben die Adern öffnen können. Darüber nachgedacht hast Du mehr als einmal. Was hat Dich abgehalten? Feigheit? Unentschlossenheit? Der Wille zu leben? Noch einmal, hattest Du eine Wahl?

Es scheint Dir, als hättest Du keine gehabt. Und dennoch kannst Du nicht begründen, warum es so war. Du kannst nichts begründen und alles. Du bist die Begründung für alles und für nichts. Du bist ebenso paradox wie dieser Raum, Du hast es bloß vorher nicht gewußt. Mit jedem Wort und jedem Atemzug schreibst Du diese paradoxe Geschichte fort, Deine Geschichte, die zugleich die Geschichte des Universums ist.

Du benutzt große Worte, mein Lieber. Ja, aber anders als zuvor hast Du nicht mehr das Gefühl, die Benutzung dieser Worte rechtfertigen zu müssen. Sie sind gewissermaßen in Deine Nähe gerückt. Sie haben ihre Größe verloren und sind dennoch gewachsen. Sie haben sich gewandelt, ihre Bedeutung und ihre Qualität haben sich gewandelt. Und wandeln sich immer fort und sind dennoch immer gleich, wie das Abbild des Mondes, das sich auf dem Wasser spiegelt. Bist Du der Mond oder das Wasser, mein Freund? Du bist beides zugleich und nichts von beiden. Du könntest ewig so fortschreiben und Dich an der paradoxen Verstricktheit der Existenz erfreuen, die so unerschöpflich wie amüsant ist. Aber zunächst gibt es Wichtigeres zu tun: Du musst pinkeln.

So ... wo warst Du stehengeblieben? Nirgendwo, denn man kann nicht stehenbleiben. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb von sich selbst, Objektivität ist eine Illusion, nicht mehr als eine Arbeitshypothese, die erste Abstraktion, sozusagen die Mutter aller Abstraktionen; der Punkt auf der Karte, der die Karte zu einer Karte macht: Sie befinden sich hier. Aber natürlich befinden Sie sich nicht hier, sondern dort. Befänden Sie sich hier, wären Sie ebenso zweidimensional wie der Punkt auf der Karte.

Leg den Stift weg. Du befindest Dich nicht auf der Karte. Hast Dich nie dort befunden. Bist höchstens zeitweilig einer Illusion erlegen, dem Schatten eines Schattens. Du bist müde: geh schlafen. Lieber Dietmar, es war mal wieder eine Freude, mit Dir zu plaudern. Bis morgen.

Dein Freund Dietmar

Tim Ingold