Wider die Wurstpellenkultur

Eine nachsommerliche Meditation über den weißen Anzug, Glanz und Geschmack

Er darf nicht arztkittelweiß sein, sondern muss leicht ins Cremige changieren

Der weiße Anzug ist selten geworden. Und das ist schade, denn es ist ein sicheres Indiz dafür, dass der Dandy vom Aussterben bedroht ist. Kein Wunder in einer Gesellschaft, die modisch gesehen keinen Geschmack besitzt und ein Kleidungsstück allein nach seiner Bequemlichkeit beurteilt. Dieses Kriterium hat uns die Jogginghose beschert, das klassische Accessoire des Spießers, aber auch des Alternativlings, der sich dem Gegenstand einstiger Verachtung immer mehr angleicht.

Dieses mit Gummizug und Ausbeulungen versehene Teil, das formlos und schlabbrig an der unteren Körperhälfte herabhängt, geriet selbst dann nicht in Verruf, als es vollgepinkelt von einem Mann getragen wurde, dessen Foto um die Welt ging. Mit Hitlergruß hatte er 1992 in Rostock-Lichtenhagen die Rechten bei einem Pogrom angefeuert. Aber auch sonst mag ich nicht so genau hinsehen, was in meinem Kreuzberger Viertel, das eine hohe Rate von Bioläden aufweist, alles so auf- und abgetragen wird. Ob es nun die obligatorische Jeans ist, die ständige Wiederkehr des immer Gleichen, das in unendlich vielen Nuancen auftauchende Grau, die Farbe der Freudlosigkeit, oder, genauso schlimm, die nach einer Geschmackspolizei schreiende Hawaiihemd-, Leggins- und Radfahrerwurstpellentrikotkultur, stets handelt es sich um eine nur mit ebenso großer Schwer- wie Langmut zu ertragende Beleidigung aller Sinne, die noch nicht völlig abgestumpft sind.

Die trostlose Alternativkultur, in der so etwas wie Mode nicht stattfindet, war mein treibendes Motiv, mir diesen lässige Eleganz ausstrahlenden weißen Anzug anzuschaffen, um ein Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass in den Kniekehlen hängende, würdelose Shorts in Übergröße nicht die ultima ratio sind für einen heißen Sommertag. Zunächst darf ein weißer Anzug niemals in der Stadt gekauft sein, in der man wohnt, sondern möglichst im Ausland und in einer Metropole, die Glanz ausstrahlt und de- ren Name schon Erinnerungen weckt, so dass den Anzug das Flair des Einzigartigen umweht. Er darf nicht arztkittelweiß sein, sondern muss leicht ins Cremige changieren. Aus Leinen sollte der weiße Anzug ebenfalls nicht sein, um der Unsitte vorzubeugen, ihn in die Waschmaschine zu stopfen, wenn man ihn beschmutzt hat, denn in diesem Moment hätte man ihn auf die gleiche Ebene gezerrt wie jedes andere beliebige Wäschestück. Der weiße Anzug zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass man sich um ihn sorgt, während er in chemischer Behandlung ist. Lassen sich die Rotweinflecken restlos entfernen? Ändert sich dadurch die Farbe? Geht er womöglich ein, weil die Gewebestruktur keine Wäsche verträgt? Wenn sich nach einer Woche des Bangens herausstellt, dass der weiße Anzug die chemische Keule überstanden hat, dann ist die Freude groß. Nur die Hose war geschrumpft, was mich dazu zwingen sollte, sie zu meinem Schneider zu tragen. Ein schwerer Gang, denn er fragt mich ganz beiläufig: „Habe ich die nicht erst vor kurzem enger gemacht?“, und lächelt wissend. Dabei verdient er nicht schlecht an meiner Illusion, dünner zu sein als die Hose erlaubt.

Wie banal und simpel nimmt sich hingegen der gleiche Vorgang mit einer Jeans aus, die kein Problem kennt, das nicht von einer Waschmaschine gelöst werden könnte. Entsprechend gleichgültig ist der Umgang der Deutschen mit ihrem Aussehen, die – wenn überhaupt – sich ein braun kariertes Jackett für besondere Anlässe in den Schrank hängen. Der weiße Anzug aber sollte nie nur zur Sonntagsmesse getragen werden. Gern trage ich ihn im Alltag, und ins Kreuzberger Freibad führte ich ihn aus, als es der Sommer zuließ. Auch Trotzki fuhr in seinem Exil auf der vor Istanbul gelegenen Prinzeninsel morgens im weißen Anzug mit einem kleinen Boot aufs Marmarameer hinaus, um zu fischen. Und von meinem Lieblingsschriftsteller Tom Wolfe ist bekannt, dass er sogar im weißen Anzug schläft. Selbstverständlich gibt es auch ungehobelte Personen, an denen der weiße Anzug verschwendet ist, wie den angeblichen Schauspieler Ben Becker, der den geschwängerten, prallen Bauch seiner Freundin präsentierte, auf den er mit Lippenstift geschmiert hatte „Made in Berlin!“ Der weiße Anzug kann also vor Missbrauch nicht geschützt werden, aber man kann mit ihm ein bisschen Licht bringen in eine Welt, in der die Geschmacklosigkeit zu Hause ist. KLAUS BITTERMANN