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Big brother or brave new Mensch

■ Werden sich die Menschen verändern, wenn Privatsphäre durch immer mehr neue Überwachungskameras dahinschwindet?

Bemerkenswert flink reagierte der Schlachthof auf Innensenator Bernt Schultes (CDU) neues Polizeigesetz, die anstehende Videoüberwachung von Bahnhofsvorplatz, Sielwalleck etc., der schleichende Import von Giulianis No-Tolerance-Konzept, diesen ganzen kollektiven Rückfall in spießigsten Kleinbürgergeist, der als Fortschritt verkauft wird. Und das Schöne: Die Bremer gehen sogar hin zu diesen diversen Veranstaltungen von „Safety first“: Locker 50 Menschen diskutierten jetzt schwerstens betroffen über die düs-teren Prognosen, welche die Züricher Architekturdozentin Elisabeth Blum einer Zukunftsgesellschaft omnipräsenter Videoüberwachung erstellte.

Ihre These: Die drohende Allgegenwart von staatlicher Kontrolle durch Videokameras aber auch durch Rekonstruierbarkeit von Bankbuchungsvorgängen, Handygesprächen und anderes wird nicht nur Taschendiebe, Obdachlose, harmlose Haschbrüder und Eckenpinkler terrorisieren und unsere Städte in sterile, schein-makellose Konsumparadiese umwandeln. Das Bewusstsein, unter Beobachtung zu stehen, wird sich – so Blums Befürchtung – in Körper, Psyche, Gestik, in jeden Einzelnen von uns einschreiben. „Diszipliniert zu werden wird zum Dauerzustand, der uns umformt.“ Soll das nun heißen, dass wir wegen imaginärer Polizeiheinis am anderen Ende der Kamera nicht mehr Nasepopeln, den Bauch einziehen, die Schultern straffen? Haben Medien in einer eintrainierten Mediengesellschaft wirklich noch solche Wirkungsmacht? Aber so konkret werden wollte Blum nicht.

Natürlich repetierte sie die üblichen Bemerkungen über die neuen strikt abgeschotteten urbanen Inseln für Reiche einerseits, dem Trend zum Wegsperren aller Drop-outs in den USA andererseits. Immerhin spickte die kluge Frau diese Zustandsbeschreibungen mit interessanten Verweisen auf Foucault, Nietzsche, Hannah Arendt, Adam Smith.

Spannender aber ist, wie sie die merkwürdige Parallelität zweier Trends einordnete, nämlich eben jener Überwachungskamera als Zurichtungsinstrument und der wachsenden Lust bei Schäfer, Meiser, Big Brother vor der TV-Kamera Intimitäten zur Schau zu stellen. Ihre These: Wir lassen uns die Invasion der Kameras in Straße und Arbeitsplatz nur gefallen, weil wir durch einschlägige Quasselshows im TV gewöhnt werden an das Gläsernwerden des Menschen. Es werden aber noch ganz andere Fragen auf uns zukommen, wenn immer mehr Lebensfunktionen mit Festplatten von PC verkabelt sind. Wie reagiert wohl ein eifersüchtiger Ehemann, wenn er auf irgendeinem stoffwechselregistrierenden Display seiner Frau ablesen kann, dass diese Adrenalin produziert beim Anblick eines Fremden. Dann hilft kein „Ich liebe nur dich“ mehr. „Die wichtigste Baustelle der Gegenwart ist die Schnittstelle zwischen Körper und Technik“, heißt es. Und da erwarten uns dann vielleicht einige albträumige Überraschungen.

bk

7.10, 20 h, Schlachthof/Magazinboden: Initiativen gegen Videoüberwachung aus Leipzig, Köln, Bielefeld, Bremen berichten

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