: Mit Steiner in den Tunnel
Vor kurzem eröffnete Otto Schily die geheimnisvolle Bahnstrecke Stuttgart-Zürich
Als Otto Schily um 12.02 Uhr in Stuttgart den ICE „Rudolf Steiner“ Richtung Zürich besteigt, ist die Welt noch in Ordnung. Das Bahnpersonal lächelt seltsam, grüßt aber freundlich. „Innenminister eröffnet neue ICE-Strecke“, haben die Stuttgarter Nachrichten gemeldet. Im Erste-Klasse-Abteil Nr. 17, gleich hinter dem blitzsauberen BordBistro, das von dunkelhäutigen Green-Card-Besitzern gemanagt wird, gilt heute Sicherheitsstufe eins.
Schily spricht warme Worte am Bahnsteig, klopft Bahnfuchs Manfred Rommel auf die Schulter und schneidet das rosa Einweihungsband über den Gleisen durch.
Ein in graue Sackleinenjoppen gehüllter Kinderchor der örtlichen Waldorfschule singt leise ein Volkslied, das wegen der Lautsprecherdurchsagen nur bruchstückhaft an Schilys Ohr dringt. Auch die verlebt wirkende Frauenmusikgruppe der Anthroposophischen Gesellschaft Stuttgart, die sich müht, mit pentatonischen Flöten die Melodie von „Auf der schwäb’schen Eisenbahne. . .“ zu intonieren, beeindruckt Schily mehr durch ihre massigen Astralkörper.
Heute hat Schily keine Zeit, den blassen Kindern über die Blondschöpfe zu streichen oder ein paar Flöterinnen sanft auf die Aura zu rücken. „Die blonden Haare geben eigentlich Gescheitheit“, denkt Schily und blinzelt. „Die Braunhaarigen treiben das, was die Blonden ins Gehirn treiben, in die Augen und Haare hinein. Man kann also sagen, dass die Menschheit mit der Blondheit ihre Gescheitheit verliert.“ Schily kratzt sich versonnen am Hintern und wundert sich, woher die Gedanken kommen. Dann reißt er sich zusammen. Eine kurze Gebärde des Abschieds, und er schleudert wie vorgesehen das Fläschchen Weleda-Rosenöl an den Triebkopf des Zuges. Winkend steigt er in den Zug: Die Jungfernfahrt des ICE „Rudolf Steiner“ beginnt.
Mit einem Bistrowägelchen schiebt sich der dunkelhäutige Greencardbesitzer Ganesh Ayran durch den ICE-Gang. Schily ordert Kamillentee, gibt Trinkgeld und drückt Ayran für die mitreisenden Fotografen die Hand. „Wenn das kein Bild für Zivilcourage ist“, denkt Schily und nippt am Tee. Ins Abteil weht ein kühler Luftzug. Schily hat wieder Gedanken, die sich in sein Gehirn inkarnieren: „Diese Schwarzen in Afrika haben die Eigentümlichkeit, dass sie alles Licht und alle Wärme vom Weltenraum aufsaugen“, sinniert Schily fröstelnd, „im Neger wird das Drinnen fortwährend richtig gekocht, und dasjenige, was dieses Feuer schürt, ist das Hinterhirn.“
Plötzlich starrt Schily aus dem Fenster. Drei Elfen schwirren mit glänzenden Libellenflügeln, apfelroten Bäckchen und knappen Efeuröckchen mit 160 km/h neben dem Zugfenster her. Es sind Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Andreas Baader. Schily greift zum Handy und will seinen Bruder in der Klinik Herdecke anrufen, ob seine Tablettendosierung noch korrekt ist.
Doch da ist kein Empfang. Der Zug fährt jetzt im Tunnel. Im Abteil funktioniert nur die Notbeleuchtung. Heftiges Wummern. Die Abteiltür fliegt auf. Im grünlich schimmernden Licht erscheinen knurrende Zwerge mit Baseballschlägern, dann Rudolf Steiner in der Uniform der Bahn AG. Mit rot geädertem Basiliskenblick starrt Steiner Schily an, entsichert eine Maschinenpistole und sagt: „Mein Name ist Steiner. Rudolf Steiner. Ich bin ihr Zugchef. Die Zuschlagkarte bitte!“
„Aber ich bin doch der Innen. . ., ich hab doch. . ., nicht schießen“, fleht Schily, während der Zug durch den Tunnel rast. „Wer Sie sind, ist mir egal“, sagt Steiner und schießt eine Salve in Schilys Aktentasche. „Ich bin der Sonnen-Eingeweihte, der Manu und Gilgamesch der Erdenmenschheit, der Erzengel mit seinen Willensstrahlen und Steiner, Ihr Zugchef!“ Schily zittert, wuchtet sich aus dem Sitz und zieht die Notbremse. Steiner wird samt Zwergen in die 2. Klasse geschleudert. Schily verharrt dank eurythmischer Bewegungen auf der Stelle. Minutenlang kreischendes Metall, Eschede total, dann endlich steht der Zug. Durch Rauchschwaden bahnt sich Schily den Weg ins Freie. Der Triebwagen des ICE hat sich in ein Betongebäude mit abgeschrägten Ecken gebohrt, das Schily bereits kennt. Es ist das Goetheanum im schweizerischen Dornach. Aus dem Gebäude trippeln in weiße Stoffbahnen gehüllte Menschen. Sie haben Getreidemühlen, Vollkornbrote und Tofuwürste auf den Köpfen, bilden einen Kreis um die Unglücksstelle und strecken Schily ihre dünnen, bedrohlich rachitischen Ärmchen entgegen. „Holt mich hier raus, ich brauch Asyyyl“, bettelt Schily mit letzter Kraft in sein Diensthandy. Zwei Minuten später stürmt die GSG 9 in den Eurythmiehaufen, und ein BGS-Hubschrauber fliegt Schily zurück nach Berlin. Seitdem ist vieles für Schily verwirrend. Er sieht manchmal Erzengel und muss öfters nach Herdecke. Die Welt ist in Unordnung geraten. MATTHIAS THIEME
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