Ohne Doktrin

Ideale, Vaterländer und all die anderen modernen Täuschungen: der aktuelle Roman „Le livre d’un homme seul“ des Nobelpreisträgers Gao Xingjian

von DOROTHEA HAHN

„Lass uns nicht über Politik reden“, fleht er sie an. Sie liegen im Bett. Die Vorhänge sind geöffnet. Von ihrem Hotelzimmer können sie bis in den gläsernen Aufzug hineinblicken, der an einem anderen Hochhaus von Hongkong rauf- und runterfährt. Er ist Chinese vom Kontinent. Sie Jüdin aus Deutschland. „Deutsche“ will sie nicht genannt werden.

Es sind zwei Heimatlose, die sich zufällig getroffen haben. In den wenigen Stunden, die sie gemeinsam auf diesem verlorenen Stück Land verbringen – die britische Kronkolonie steht kurz vor der Übergabe an die Volksrepublik –, will er ihre Brüste in seinen Händen halten. Sie will in ihn dringen, um die Schrecken seiner Vergangenheit zu erforschen. „Schreib es auf!“, sagt sie ihm, „tu es wenigstens für dich selbst.“ So geht es knapp 500 Seiten lang in Gao Xingjians jüngstem Roman „Le livre d’un homme seul“ („Das Buch eines einsamen Menschen“), der im Februar auf Französisch erschien und noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Es ist ein ständiges Wechselspiel zwischen Verdrängen und Zurückkehren. Zwischen Drinnen und Draußen. Zwischen Einsamkeit und Nähe.

Es ist die Suche eines Exilierten. Seinem eigenen Land hat Gao Xingjian 1987 den Rücken gekehrt. In Peking galt er als Westler und Abstrakter. Seine bei Ionesco und Beckett inspirierten Theaterstücke gelangten nur in den Jahren zwischen Kulturrevolution und Mitte der Achtzigerjahre auf die Bühnen. Seither ist er in China wieder zensiert. In Frankreich, dessen Staatsangehörigkeit er 1998 bekam, hat Gao Xingjian ein umfassendes Theater- und Romanwerk geschrieben. Aber er ist ein Unbekannter geblieben. Ein Chinese, der über China schreibt und bis zu diesem Herbst Auflagen von maximal 4.000 Stück mit seinen Romanen schaffte. Als er am 12. Oktober den Literaturnobelpreis bekam, kannte ihn nicht einmal die bekannteste Pariser Literaturkritikerin.

„Le livre d’un homme seul“ ist Gao Xingjians erster Roman, der zwischen den beiden Welten spielt. Das erste Buch, in dem er den Dialog zwischen den Zeiten vor seiner Flucht und nach seiner Flucht organisiert. Es ist das persönlichste Buch Gao Xingjians. Sobald darin irgendjemand über China spricht, versucht er abzuwiegeln. Sagt, dass er mit seinem Land abgeschlossen habe, dass es keinen Grund gebe zurückzukehren, dass seine Eltern tot seien und dass er nicht an eine baldige Veränderung glaube. Dann holt er doch aus. Beschreibt den „roten Terror, diese ansteckende Krankheit, die alle verrückt macht“ und von der sie im Westen nichts verstünden. Oder fragt den einbalsamierten Leichnam des großen Vorsitzenden: „Glauben Sie wirklich an den Kommunismus von Marx?“ Worauf der tote Mao antwortet: „Das ist nur eine Etappe.“ Oder schildert Totschlagszenen auf offener Straße, Bespitzelungen in der eigenen Familie, Zwangsarbeit auf dem Lande und den vergeblichen Rückzug in ein bäuerliches Idyll.

Immer tut er das in einer trockenen Sprache. In kurzen Sätzen führt er an Menschen heran, die vielfach namenlos bleiben und doch intime Bekannte werden, und an Orte, die auch für jene konkret werden, die keine Ahnung von China haben. Immer wenn Gao Xingjian Szenen in China beschreibt, entwickelt er eine Präzision, die manchmal atemlos macht, manchmal ängstlich. Und die so intensiv werden, dass sie beim Lesen zu Tränen rühren können. Die Szenen im Westen hingegen bleiben oft abstrakt. Und zwar nicht nur Gao Xingjians Zwiegespräche über die Literatur und die Freiheit, sondern auch seine Begegnungen mit Frauen.

Wer wissen will, was den 60-jährigen Schriftsteller, Dramaturgen und Maler bewegt, der sollte „Le livre d’un homme seul“ lesen. Er wird darin jemanden kennen lernen, der das Kollektiv – das Vaterland, die Partei und „all die anderen modernen Täuschungen“ – hasst. Der nichts mehr mit Politik zu tun haben will, obwohl er vom ersten bis zum letzten Kapitel seines Buchs über Politik schreibt. Der keine Bindungen mehr eingehen will – aus Angst vor neuem Verrat. Und der erleichtert ist, wenn die Ideale zerstört sind. „Der Mensch“, schreibt er, „ist ohne Doktrin eher ein Mensch.“

Er wird zugleich jemanden kennen lernen, der die Rolle des Helden ablehnt und der vertritt, dass der Mensch keinen Widerstand gegen die Gewalt der Macht leisten könne. „Du bist kein Drache, du bist kein Insekt“, schreibt Gao Xingjian, „du bist gleichzeitig dein Herr und dein Apostel, und du opferst dich nicht für die anderen, so wie du auch nicht verlangst, dass man sich für dich opfert.“

Im Gegensatz zu einer seit dem 12. Oktober weit verbreiteten Erwartung ist Gao Xingjian – der Hedonist, der sagt, dass ihn die Einsamkeit gerettet hat – auch keineswegs bereit, in die Rolle eines chinesischen Solschenizyn zu schlüpfen. In „Le livre d’un homme seul“ hat sich seine Hauptfigur bereits vor Jahren gefragt, ob er zum Dissidenten tauge. Seine Antwort: „Du bist kein Fahnenträger. Kein Kämpfer.“

Gao Xingjian: „Le livre d’un homme seul“. Editions de L’aube, Paris 2000, 486 Seiten, 158 Franc