: Wust und Wirrnis
Wenn die Magistra-Arbeit die Ebene sexueller Thematik etabliert – oder so ...
Es gibt Menschen, die, anstatt den institutionalisierten Schwachsinn namens geisteswissenschaftliches Studium abzuhaken, Magisterarbeiten zu schreiben sich genötigt fühlen. Solche Menschen haben ein schweres Los gezogen. Eine Magisterarbeit, die zum beschwingten Tragen des Titels Magistra oder Magister Artium unabdingbar ist, demütigt. Sie zwingt im Vorfeld der Recherche zu unsinniger Disziplin; sie nötigt zu endlosen Bibliotheksgängen, den obligaten Exzerpierqualen und modelt das Leben zu einem macbethschen Albtraum aus Zetteln, Wust und Wirrnis.
Ich darf mich unglücklich schätzen, kürzlich während der „heißen Phase“, die eine arktisch unterkühlte Leidenszeit war, während besagter Finalproduktion assistierend den Feuermann gemimt zu haben. Der Magister nahte, hob sein horribles Haupt und wollte gestreichelt werden. Der Text musste ein Ende finden.
Wir kauerten zwischen Bücherstapeln, Cola- und Bierdosen, Keksbüchsen und schweißtreibenden Handtüchern, um feilende Schlussredaktion bemüht, dem Gedanken des entscheidenden Schliffs am Ausdruck und an der wissenschaftlichen Beweisführung erlegen. Die Lampen funzelten nur so.
Jeder Satz sah sich schleiermacherisch akribischer Prüfung, ja strengster philologischer Wertung ausgesetzt. „Hier will Nabokov eine neue Ebene der sexuellen Thematik inhaltlich etablieren“, las ich plötzlich und hielt inne. „Meinst du das so?“, fragte ich, und die Examenskandidatin wog den wunderbar verwuschelten Kopf. „Hm“, katzte sie, „weiß nich. Könnte sein.“
„Könnte es nicht sein, dass du meinst, Nabokov thematisiere die fälschlich etablierte Ebene sexueller Notstände in Zeiten der Abwesenheit von erotischer Liberalisierung unter der Knute des amerikanischen Albtraums?“, kluggeckerte ich. „Albtraum stimmt schon“, zögerte sie zauselig, „aber Nabokov etabliert die Ebene der inhaltlich thematisierten Disharmonie der Geschlechter als Paradigma etablierter puritanischer Verklemmung.“
„Wie?“ – „Sieh! Auf der Ebene des Erotischen entert Nabokov eine Ebene, die bislang niemand zu etablieren vermochte.“ – „Das stimmt schon, vielleicht, und es ist elegant ausgedrückt. Aber hört sich das nicht zu abstrakt, um nicht zu sagen: zu vage an?“
„Vage? Woher! Die Waage des Odysseus wiegt sich im Wind des sirrenden Sirenengesangs allemal dort, wo die etablierte Konvention einer neu zu errichtenden, einer quasi und ohne Scheu noch Scham zu etablierenden Ebene des Erotischen schon die Grenzen aller bisher bekannten Etablierungen des Sensosexuellen transzendiert.“
„Transzendenz“, murmelte ich, „Transzendenz kommt immer gut.“
„Eben“, warf das weise Wesen ein, „und sie bedarf thematischer Etablierung der Ebene, die noch nicht erkundet ward.“
„Erkundet ward?“, konterte ich mit letzter Kraft.
„Klingt klar, oder?“
Dass eine Bekannte der magistrierenden Freundin nach Abgabe des Werks bemerkte, sie bestünde darauf, hätte sie was zu melden, in jeder Magister- und Doktorarbeit müsse der Satz stehen: „Er zieht sein Schießeisen“ – das leuchtete mir richtig regelrecht ein.
Und hat bei mir eine neue hermeneutische Ebene etabliert, wenn nicht installiert. Irgendwie. JÜRGEN ROTH
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