: Europa macht unendlich müde
Das Ringen um Europa endete wie üblich mit kleinlichem Gezerre um Macht und Quoten. Gewinner sind die großen Länder und der Kommissionspräsident
aus Nizza DANIELA WEINGÄRTNER
Ganz früh am Montagmorgen spuckte die Traumstadt an der Côte d’Azur ihre Gäste aus. Kleinbus-Konvois tauchten aus den Garagenschächten und rasten durch die Gassen, als gelte es, einem Attentat zu entkommen. Sie brachten ihre übermüdete Fracht aus Aktentaschenträgern, Übersetzern und Juristen zurück in die Prachthotels an der Strandpromenade. Jetzt noch drei Stunden schlafen und dann bloß weg hier. Die Gäste hatten genug von Nizza. Und Nizza hatte genug von seinen Gästen.
Was als provençalisches Fest mit Rosen, Olivenzweigen und blauem Himmel begann, endete in Katerstimmung. Seit sich am Sonntagnachmittag abzeichnete, dass sich auch diesmal wieder das Ringen um Europa auf ein kleinliches Gezerre um Macht und Quoten reduzieren würde, war allen klar: Der Vertrag von Nizza wird keinen der hohen Ansprüche einlösen, die die Politiker seit Monaten an ihn gestellt haben.
„Seit Stunden habe ich nur gehört: für mich, für mich, für mich ...“, knurrt der belgische Premier Guy Verhofstadt um fünf Uhr morgens wütend in die Mikrofone. Er habe für Europa gefochten, für die Würde der Beitrittskandidaten, habe die Rechte der kleinen Länder verteidigt. Dann unterbricht er sich: „Ich habe es satt, von kleinen Ländern zu reden. Reden wir in Zukunft von weniger großen Ländern.“
Die „weniger großen Länder“ haben in dieser letzten Nacht von Nizza eine Ahnung davon bekommen, wie zugig das Haus Europa künftig für sie werden könnte. Das Zugeständnis, auf unbestimmte Zeit je einen Kommissar in Brüssel zu behalten, haben sie teuer erkauft. Und die neuen Rahmenbedingungen werden dafür sorgen, dass sich auch dieser kleine Sieg am Ende als Niederlage herausstellen könnte.
Denn eine Kommission von 27 Mitgliedern bleibt nur arbeitsfähig, wenn Ressorts gebildet, Ober- und Unterkommissare den einzelnen Arbeitsbereichen zugeordnet werden. Diese Rollenverteilung übernimmt künftig der Kommissionspräsident, der als einziger gestärkt aus der Tretmühle von Nizza hervorgeht. Diese Einsicht brach am Ende doch durch die schlafvernebelten Köpfe: Ein Kollegium von 27 gleichberechtigten Kommissaren wäre nicht mehr arbeitsfähig. Ein Chef mit Richtlinienkompetenz muss her.
Gewählt wird dieser starke Chef künftig mit qualifizierter Mehrheit. Und so haben die „weniger Großen“ eben doch wieder das Nachsehen. Denn die qualifizierte Mehrheit à la Nizza wird vor allem eine komplizierte Mehrheit – und sie berücksichtigt stärker als das bisherige Verfahren die Bevölkerungszahl der einzelnen Länder: Neben 74,6 Prozent der gewichteten Stimmen müssen auch die Mehrheit der Länder und 62 Prozent der Bevölkerung hinter einer Entscheidung stehen.
Allein dieses neue Prozedere zeigt, was in Nizza aus dem Anspruch geworden ist, die EU-Verträge lesbarer und bürgernäher zu machen. So gesehen ist es fast ein Glück, dass der Plan, die qualifizierte Mehrheit zur Regel und Einstimmigkeit zur Ausnahme zu machen, nicht umgesetzt wurde. Denn die nun erfundene „dreifache Mehrheit“ verstehen nur noch Juristen.
Seinen kurzen Augenblick des Glücks hatte dieser Gipfel am Sonntag gegen Mitternacht. Da rüttelten im Konferenzzentrum Akropolis die sechs „weniger Großen“ an den Stühlen der selbstgefälligen Franzosen, Briten, Deutschen und Spanier. Griechenland, Finnland, Portugal, Belgien, Schweden und Österreich verlangten eine Denkpause und drohten damit, die ganze Farce auffliegen zu lassen. Hätten sie den Mut aufgebracht, hätte das Projekt EU einen Teil seiner Glaubwürdigkeit zurückgewonnen.
Die Druckwellen dieser Erschütterung schwappten über die Straße ins Pressezentrum. Plötzlich standen aufgeregte Delegationsteilnehmer mit Journalisten zusammen und gewährten einen Blick auf die sprach- und hilflosen Staatschefs in ihrem Betonbunker. Ein spanischer Attaché versicherte, sein Land sei doch immer dafür gewesen, die Strukturfonds künftig mit qualifizierter Mehrheit zu beschließen. Er könne sich auch nicht erklären, wie die Einstimmigkeitsfrist bis 2007 plötzlich in den Vertrag gelangt sei.
Eine französische Regierungssprecherin fiel aus allen Wolken, als man sie fragte, warum Frankreich den Wunsch der anderen vierzehn nach einem durchschaubaren Verfahren für die qualifizierte Mehrheit blockiert habe. Da hätten die Journalisten wohl etwas missverstanden. Niemand habe das von Frankreich vorgeschlagene Verfahren kritisiert.
Jetzt, da die Politiker den Offenbarungseid geleistet haben, werden die Europa-Zyniker zu Wort kommen. Wie der Habicht auf die Feldmaus, so würden sich die Journalisten am Ende der Konferenz auf die Schwachpunkte im Vertrag von Nizza stürzen, hatte Joschka Fischer am Samstag prophezeit, als er noch wach und zu Metaphern aufgelegt war. Die Leitartikler werden ihm nun mit dem Hinweis antworten, dass für die jetzt eingetretene Mäuseplage wohl der Kammerjäger gebraucht wird.
Und der französische Europaminister Moscovici wird sich sagen lassen müssen, dass das „Kartenhaus Europa“, das er am selben Tag als komplizierte statische Herausforderung beschrieb, in Nizza zusammengefallen ist. Denn Chirac hatte den Joker nicht im Ärmel, den alle bei ihm vermutet hatten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen