: Zahlen, nichts als Zahlen
■ Das Reich von Graf Zahl muss in Bremen liegen: Und zwar beim Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe. Paul Schröder ist es, der hier rechnet
Sabine sitzt über der Klausur und kriegt es nicht hin: Tabellen in Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. An der dritten Aufgabe kommt die Gymnasiastin einfach nicht weiter: Beurteilung der Bremer Arbeitslosenzahlen von 1998 im Vergleich zum Bundesdurchschnitt unter Berücksichtigung der Revision der Beschäftigtenzahlen ab April 2000 durch die Bundesanstalt für Arbeit. Stoff der 12. Klasse.
Ihr Lehrer kennt die Lösung. Er hatte jedoch ein wenig Hilfe – ein grünes Heft mit Statistiken, Kurven und Erläuterungen vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe. Das Institut liegt in der Knochenhauerstraße 20-25, genauer im dritten Stock, zweites Zimmer links. Ein Zimmer für den einzigen Beschäftigten, Paul Schröder.
Auf zwei Schreibtischen in der Mitte des Zimmers stapeln sich die Unterlagen: Bücher, Zeitungsartikel, Fotokopien und Grafiken, in denen einige Zahlen mit gelbem Marker gekennzeichnet wurden. Neben der Tür hängen mehrere Schaubilder, auf denen sich Kurven schlängeln. Im Regal sitzt eine verstaubte Stoffpuppe, spitze Nase, rosa Gesicht, ein Monokel ist am Auge festgenäht: Graf Zahl – und hier scheint sein Reich zu sein.
„Das Institut beschäftigt sich mit der Entwicklung des Arbeitsmarktes und mit Problemen, die dort auftreten“, erklärt Paul Schröder. „Hierbei betrachte ich vor allem die, die am Rande des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes stehen.“ Der Mann mit den blitzenden Augen und der ruhigen Stimme arbeitet seit Gründung des Instituts mit Zahlen. Es macht ihm Spaß die statistischen Veröffentlichungen der Bundesanstalt für Arbeit zu lesen und mit anderen Zahlen in neue Zusammenhänge zu stellen.
„Das Interessante steht oft im Kleingedruckten. Es ist zum Beispiel richtig, dass die Vermittlung von Ausbildungsplätzen gestiegen ist. Aber man sollte auch wissen, dass es mehr Abbrecher gibt als jemals zuvor.“ Details die man sonst nur auf der Rückseite der offiziellen Veröffentlichungen findet ...
Die Fußnoten liest Schröder besonders aufmerksam. Mit ihrer Hilfe berechnet er die so genannten Dunkelziffern. Bei den Arbeitslosenzahlen muss zum Beispiel auch die Zahl derer berücksichtigt werden, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken. Ich versuch auf Probleme aufmerksam zu machen, die in der Statistik liegen.“ Seine Beobachtungen und Analysen veröffentlicht Schröder in regelmäßigen Abständen in kleinen Heften, die an Bremer Politiker, Lehrer und an das Bildungs- und Sozialressort gehen.
Nachdem der Vorgänger des Instituts, der Verbund gegen Jugendberufsnot e.V. weggestrichen wurde, arbeitete Schröder zunächst ehrenamtlich weiter. Im Juni 1997 gründete er selbst das heutige Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe. Die Einrichtung trägt sich durch die Erlöse der Informationsbroschüren, hinzu kommen kleine Zuschüsse vom Bildungssenator.
Paul Schröder gefällt seine Arbeit. Er ist ein Idealist. „Im Grunde genommen arbeite ich für eine größere soziale Gerechtigkeit und mehr reale Chancen für die, die von Ausgrenzung bedroht sind.“ Je länger Schröder von seinen Analysen spricht, desto mehr gestikuliert er und verweist auf Hintergrundinformation – „... und wenn man hier jetzt noch berücksichtigt, dass ...“, ist seine Lieblingsformulierung. Für Sabine wäre das nichts.
Christian Schuster
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