Atmosphäre unter Null

Er ist immer da, er grüßt kaum, und er macht Angst – der Kioskverkäufer

Die Personen in diesem Text sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Kioskverkäufern wäre rein zufällig.

Kalt und schneidend machte sich der Ostwind am unrasierten Gesicht zu schaffen. Und das auf dem schweren Gang, den ich zu gehen hatte, den ich jeden Morgen gehen muss. Der Gang zum Kiosk. Denn dort ist er. Er ist immer da. Der Kioskmann.

Er machte mir Angst vom ersten Tage an, seitdem ich bei ihm Zeitungen und Zigaretten kaufe. Klein und hart gesotten steht der Mann jeden Tag außer sonntags in seiner Kiste ohne Heizung, die nicht viel größer ist als die zwei benachbarten Telefonzellen. Sechs Tage in der Woche von 4 Uhr 30 an. Und seien es minus zwanzig Grad, wie im Winter damals neunzehnhundert- ..., na, egal, er steht aufrecht hinterm Fenster. Ohne Jacke oder Mantel. Ohne Hosen? Nein, nein, ohne Thermohose wäre dieser Mensch winters gar nicht denkbar. An diesen Tagen unter Null liegt in seinem Blick ein Vorwurf, der sich in etwa so übersetzen ließe: „Ich will ja keine große Sache draus machen, aber ich steh hier bei minus zwanzig Grad. Wenn ich Stalingrad höre, das nur nebenbei, kann ich nur lachen. Und Sie? Sie Nifftel führen bestimmt das luxuriöseste Leben in gut geheizten Räumen!“

Das Sortiment sucht in der Gegend seinesgleichen. Gazeta Wyborska, Wall Street Journal, Hustler – alles da. Außen- wie Innenwände verschwinden völlig hinter den dicht an dicht aufgereihten Publikationen. Efeu rankt vom Dach, das im Dezember ein Weihnachtsbaum ziert.

Er neigt nicht zum Guten-Tag-Sagen. Er grüßt kaum, obwohl ich betont deutlich und aufgeräumt einen Gruß entbiete. Und wehe, man insistiert, die Atmosphäre zwischen Käufer und Verkäufer zu entspannen. Mit einem Scherz womöglich. Er scherzt erbarmungslos zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

Und dann das Bezahlen. Morgens um halb acht mit einem Zwanziger? Er guckt wie ein texanischer Gouverneur, dem ich das Gnadengesuch für einen vierfachen Mörder afroamerikanischer Herkunft überbringe. Böse, richtig böse. In seinem schätzungsweise 45 Jahre währenden Leben ist ihm das noch nicht untergekommen. Und er hat schon viel erlebt, seit 23 Jahren zieht das Leben an seinem Kiosk vorbei in Gestalt teils allerdings recht grotesker Figuren. Ihm macht niemand was vor.

Dass er mir überhaupt noch etwas verkauft, verdanke ich vermutlich der Schutzgöttin der Zeitungsleserinnen und -leser. Ich habe nämlich selbst Schuld an den Kalamitäten. Denn er hatte es ja versucht. Ein einziges Mal hatte er es mit Freundlichkeit versucht, wollte zuvorkommend sein, als er eines Tages, ohne dass ich etwas gesagt hatte, eine Allgemeine und eine Schachtel Winston hinlegte. Ein weltweit amtlich anerkanntes Zeugnis für die Beförderung eines Menschen zum Stammkunden: Er muss nichts mehr bestellen, seinen Wunsch nicht äußern, sondern er kriegt stillschweigend das Übliche. Ich Idiot aber korrigierte im nächsten Moment das Ergebnis seiner Serviceleistung, indem ich sagte: Nein, heute nehme ich keine Allgemeine. Ich möchte eine Süddeutsche. Damit war der Käse gegessen, die Messe gesungen, kurzum der Fall erledigt. Der noble Kioskbesitzer hatte mir die Chance gegeben, in den inneren Kreis aufgenommen zu werden. Womöglich hätte ich bald schon, wie andere, ein paar Minuten vor seinem Häuschen stehen bleiben und mitschwatzen dürfen. Aber nein, mit einer einzigen, zumal selbstsüchtigen und unbedachten Äußerung hatte ich alles zerstört, noch bevor es keimen konnte. Fortan war und seitdem ist mein morgendlicher Weg zum Kiosk begleitet von einem hohen Maß an Gefühlen der Schuld, der Angst und des Schreckens. Und der Rückweg wird nicht besser. Wünscht man ihm zum Abschied noch einen schönen Tag, hallt es zurück: „Wünsch ich mir auch.“ DIETRICH ZUR NEDDEN