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Die Verrücktheit ist verloren

Der Kreis hat sich geschlossen: Ein märchenhaftes Jahr verbrachte der Fußball-Torwart Lars Leese in der englischen Premier League, jetzt fängt der 31-Jährige wieder Bälle in der vierten deutschen Liga

Torhüter Lars Leese:„Ich dachte, ich sehe die Weihnachtsengel fliegen“

von RONALD RENG

Was es heißt, ein Star zu sein, erfuhr Lars Leese eines Samstagabends in Barnsleys Diskothek The Theatre – auf der Toilette. Ein Mann trat Leese sofort seinen Platz am Pissoir ab und begrüßte den 1,97 Meter großen deutschen Torwart mit einem Hauch von Poesie: „Oh, Lars Leese, tall as trees.“ Während seines Vortrags pinkelte der Mann weiter; nun, da er Leese das Pissoir überlassen hatte, auf den Boden.

Lars Leese sagt, er habe „das alles aufgesaugt“, nicht unbedingt den Geruch auf der Toilette, aber all diese kleinen Momente, in denen er spürte, dass er es geschafft hatte: Profifußballer beim FC Barnsley in der Premier League. Heute ist das alles Erinnerung. Mit 31, anderthalb Jahre nachdem er Barnsley verließ, geht Leese morgens in Köln „Bleifstifte verticken“, wie er mit fröhlicher Selbstironie seinen Job als Vertreiber von Bürowaren beschreibt. Abends um sechs trainiert er mit den viertklassigen Amateuren von Preußen Köln, jetzt im Winter oft auf einem Aschenplatz.

Lars Leese ist wieder da, wo er herkam. Sein Ausflug in die Welt des Profisports währte nur drei Jahre – aber es wird immer eine einmalige Karriere bleiben. Denn Leese lebte den Jedermann-Traum. Er machte wahr, wovon zehntausende Freizeitfußballer heimlich träumen: Plötzlich kommt einer und macht dich zum Profi. Leese spielte mit 22 für die Sportsfreunde Neitersen in der Kreisliga Westerwald. Mit 28 sicherte er mit seinen Paraden Barnsleys 1:0-Sieg über den sechsmaligen Europacupsieger FC Liverpool vor 40.000 Zuschauern an der berühmten Anfield Road.

Dabei, sagt er, schien der Traum vom Profi bei ihm eigentlich „wie bei 500.000 anderen zu enden, als ich mit 16 Frauen und Bier entdeckte“. Er schmiss den Fußball, obwohl er in der B-Jugend des Bundesligisten 1. FC Köln spielte. „Ein ehemaliger Hausmeister von mir“ überredete ihn, in Neitersen zum Spaß wieder anzufangen. Mit 26 war er bei Preußen Köln in der vierten Liga angelangt; ohne Illusionen: „In dem Alter wird man eigentlich nicht mehr Profi.“

Das waren auch die Worte von Reiner Calmund. „Aber unsere Scouts haben dich empfohlen, und aus irgendwelchen Gründen will dich der Erich Ribbeck. Und bei uns kriegt der Trainer, was er will“, fuhr der Manager von Bayer Leverkusen fort, als er Ende 1996 Leese ins Büro des Bundesligisten bestellte. Leese, der damals als Einkäufer für Computerware arbeitete, dachte, „ich sehe die Weihnachtsengel fliegen“. Von der nächsten Telefonzelle rief er seine Eltern an: „Mama, ich bin Profi.“

Als dritter Torwart schaffte er es in Leverkusen zwar noch nicht einmal auf die Auswechselbank, aber ein Jahr später hatte ihm der Engländer Tony Woodcock, der einst für den 1. FC Köln angriff und noch immer im Rheinland wohnt, einen Vertrag in Barnsley vermittelt. Er absolvierte in seiner ersten Saison elf Spiele, „aber ich fühlte mich immer noch mehr wie ein Fan als ein Profi“.

Er unterbricht sich selbst mit einem Lachen. Er hätte wohl keinen besseren Ort als Barnsley treffen können, nach 110 Jahren spielte die Elf erstmals erste Liga, und sie waren dort damals doch alle so kindlich begeistert über ihr Jahr im Flutlicht. Nachdem sie im Februar erstmals auf einem Nicht-Abstiegsplatz standen, spendierte Vereinspräsident John Dennis dem Team spontan einen Urlaub auf Mallorca – Reiseantritt zwei Stunden später. Mitten in der Saison. „Da hieß es eine Woche lang nur: hoch die Tassen.“ Danach gewannen sie nur noch ein Spiel und stiegen ab. In der Zweiten Liga spielte er noch ein Dutzendmal, doch plötzlich „war der Rausch weg“. Barnsley ließ seinen Vertrag auslaufen, und er fragte sich, „wer nimmt einen Auswechseltorwart aus der zweiten Liga?“ Ohnmächtig saß Leese im Sommer 99 bei den Schwiegereltern in Gelnhausen. Spielervermittler riefen an, die „mir einen Vertrag in der Türkei versprachen, das Gehalt 700.000 Mark. Blablabla.“

Die Saison begann, er meldete sich arbeitslos. Leese verzweifelte. Er hatte seine „Torwartsachen immer im Kofferraum, ich war immer stand-by“, und kreuzte auf gut Glück einmal beim Training von Eintracht Frankfurt auf, wo sie ihn „wegen der Versicherung“ nicht mitmachen ließen. Ein Freund, der als Immobilienmakler handelte, schickte Faxe durch die Ligen, in denen er Leese anbot. Rot-Weiß Essens Trainer Klaus Berge rief tatsächlich zurück. Leider sagte dem Immobilienmakler der Name nichts, „Berge, wer sind Sie, was wollen Sie?“ Da war der Trainer beleidigt. Im April, ein Jahr war vorüber, geriet Leese endlich an einen fähigen Agenten, den Mannheimer Dieter Heimen. Er beschaffte ihm innerhalb von vier Wochen zwei Probetrainings, beim VfB Stuttgart und SV Waldhof. Doch Leese spürte, nach einem Jahr im Niemandsland war die Skepsis der Vereine zu groß und seine Form nicht mehr gut genug.

Der Kreis hat sich geschlossen. Er sagt, er gehe jetzt morgens richtig gerne ins Büro. Abends auf dem Fußballplatz ist „die Verrücktheit verloren gegangen“. Im Sommer will er ganz aufhören. Die fünfjährige Tochter hat kürzlich ängstlich gefragt: „Papa, müssen wir noch mal umziehen?“ Wie schön es gewesen sei zu antworten: „Nein, wir bleiben jetzt hier“, sagt Leese. Keine Bitterkeit. War eine kurze Zeit als Profi, aber eine schöne Zeit, eine große Zeit.

Noch einmal packt ihn die Erinnerung: „Wie ich in Leverkusen zum ersten Mal Torwarthandschuhe bekommen habe, auf denen mein Name aufgedruckt war – vor lauter Glück habe ich die Handschuhe die ganze Zeit auf der Autofahrt nach Hause angehabt.“

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