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Die Poesie der Gleichzeitigkeit

■ NDR-Sinfonieorchester: Elliott Carter und Gustav Mahler

Christoph Eschenbach hat wieder mal ein Konzert zusammengestellt, dessen Programmpunkte kaum unterschiedlicher sein könnten. Die zeitliche Aufteilung wie gewohnt: vor der Pause ein amerikanischer Avantgardist und danach ein Überschwang an deutscher Spätromantik. – Peitsche und Zu-ckerbrot für das Abonnenten-Publikum. Noch immer bringt das allgemeine Verärgerung mit sich; schließlich haben Komponisten die größten Erfolgsaussichten, wenn sie entweder tot, oder wenigstens Deutsche sind. Aussichtslos ist die Lage hingegen für lebende Amerikaner. Das steht sogar im Programmheft.

Auch bei der ersten Aufführung des Programms am Sonntagmorgen ließ sich schon beim dissonanten Anfangsakkord von Elliott Carters Klarinettenkonzert ein deut-liches „Oh, Gott“ aus den grauhaarigen Reihen vernehmen. Und beim Gang in die Pause war dann kaum zu überhören, dass sich ein Großteil des Parketts doch eher Gershwin als Carter gewünscht hätte; wenn es denn schon ein Ami sein muss. Dabei zeichnet den heute 93-jährigen Elliott Carter eine Vorliebe für europäische Musik aus. Die Art aber, wie er Stravinsky verarbeitete, ist wiederum typisch amerikanisch. Dessen Emanzipation des Rhythmus' führte Carter zur Arbeit mit gleichzeitig ablaufenden unterschiedlichen Tempi.

Das Erproben einander nicht zwingend zugehöriger Formen findet sich auch in dem hier aufgeführten Klarinettenkonzert von 1996. Die Instrumente werden in fünf Gruppen aufgeteilt, die nacheinander die Hauptaktion übernehmen. Die Solo-Klarinette, gespielt von Chen Halevi, gesellt sich zu der jeweils aktiven Gruppe, während die übrigen Instrumente den Verlauf sparsam konterkarieren. Im Verhältnis zu der Stimmenverwirrung in Carters älteren Stücken, sind die Kontingenzen im Klarinettenkonzert so sanft eingesetzt, dass man wohl endlich von einem Alterswerk Carters sprechen kann.

Nach der Pause wird Eschenbach auch heute das Mahler-geübte Orchester noch einmal durch eine knallige Version der 5. Sinfonie führen. Der 4. Satz, den Lucino Visconti in seiner filmischen Thomas Mann-Adaption Der Tod in Venedig zum Leitmotiv machte, wird abermals so mollig geraten, dass es einem warm ums Herz werden will. Und wenn Eschenbach am Ende wie ein Torero ausholt, um die Sinfonie mit einem gewaltigen Schlussakkord zu erdolchen, wird wieder alles seine Ordnung haben. Besonderer Respekt gilt jedoch der behutsamen Beharrlichkeit, mit der seit einiger Zeit in Hamburg versucht wird, das Publikum an eine weniger runde Musikwelt zu gewöhnen. Andi Schoon

heute, 20 Uhr, Musikhalle

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