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Faul, gebrechlich und entschlossen

Wenn Erlebniskicks die Physis überholen: Selbst kopflose antike Siegesgöttinnen machen aus ihrer Versehrtheit eine Stärke. In ihrem Solo „Nike“, das heute auf den Tanztagen Premiere hat, erzählt die australische Choreografin Jo Stone vom Sieg und vom Fall des Körpers im Geschwindigkeitsrausch

„Ich arbeite mit der Frage, wie wir reagieren, wenn wir erkennen, dass wir nicht gewinnen“

von JANA SITTNICK

Einmal fiel sie um und lag da wie ein Käfer, mit dem Rucksack auf dem Rücken und den Beinen in der Luft. „In Italien war das, auf einem Bahnhof. Jemand hatte mich angerempelt, ich verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Wie ich dann so auf dem Boden lag und gegen mein Gepäck anstrampelte, versuchte ich, cool zu bleiben, obwohl ich mich ziemlich panisch fühlte.“ Jo Stone stand wieder auf. Die Erfahrung, den eigenen Körper nicht mehr kontrollieren zu können, war neu. Und genau daraus machte sie Tanz. In ihrem Stück „Nike“ hat sich der Körper – der gebrechliche, der faule, der starke, der entschlossene – selbst zum Gegenstand.

Die Choreografin nutzt ihren Körper als Instrument, mit dem sie ihre Reflexionen über Erfolg und Risiko, Geschwindigkeit und Niederlage in Bewegungen übersetzt. Nach fünfmonatiger Vorbereitungszeit, in der Jo Stone Bilder und Gedanken zusammentrug, um ihre fragmentarische Geschichte zu erzählen, probte sie eineinhalb Monate für ihr Solo, das heute bei den „Tanztagen“ Premiere hat.

„Nike“ erzählt vom Willen zum Sieg und von den physischen Limits. „Ich arbeite mit der Frage, wie wir reagieren, wenn wir erkennen, dass wir nicht gewinnen und augenblicklich alles haben oder tun können, weil unser Körper nicht mit dem Tempo unseres Denkens mithält.“ Stone zeigt Situationen, in denen ihr vom Siegeswunsch geprägter Bühnencharakter entscheidet, ob er „beschleunigt oder verlangsamt“, und welche Konflikte damit verbunden sind. In nur wenigen Momenten erlaubt sie der Figur das Innehalten, ein Nachdenken über die Gefahren des Risikos.

Dann wird weiter gehetzt. Angeregt von der „Just do it“-Werbekampagne des Nike-Konzerns, die Slacker-Helden im Geschwindigkeitsrausch vorführt, begibt sich Stone auf die Suche nach dem Erlebniskick. Die sechsundzwanzigjährige Australierin präsentiert mit „Nike“ ihre zweite choreografische Arbeit, die in Berlin entstanden ist. Dank eines Stipendiums des „South Australien Youth Arts Board“ kann die Farmerstochter aus Adelaide, die in Tanz, Schauspiel und Gesang ausgebildet ist und als „Crombie the Crow“ im australischen Kinderfernsehen auftrat, in Berlin arbeiten.

Wegen Anzu Furukawa, die mit ihrem „Verwandlungsamt“ in Berlin residiert, kam Stone hierher. 1995 hatte sie die Japanerin bei einem Workshop-Festival in Australien getroffen und war ihr zwei Jahre später nach Berlin gefolgt, um sich in Butoh und zeitgenössischem Tanz ausbilden zu lassen. Dann arbeitete sie nacheinander in Japan, Südkorea, Deutschland und Australien, für Tanz-, Theater- und Filmproduktionen. Australien vermisse sie nicht, sie sei gern dort, um Urlaub zu machen. „Es ist ein ganz anderer Rhythmus dort unten. Aber Berlin ist künstlerisch interessanter, und die Geschichte der europäischen Kultur fasziniert mich.“

Stone liebt die Statue der Nike von Samothrake. Im Louvre war sie allerdings noch nie, um das antike Original zu sehen, sie kennt die Siegesgöttin mit dem geflügelten Torso, dem Kopf und Arme fehlen, nur von Fotos. „Ich frage mich, ob die Reduktion, das Fehlen des Kopfes und der Arme, nicht die gesamte Bedeutung der Figur auf die Flügel verschiebt.

Vielleicht ist gerade das ein Zeichen des Sieges. Reichen, wenn alles andere fehlt, die Flügel aus, um zu fliegen?“ Die Göttin Nike steht für die Vermittlung zwischen Göttern und Menschen. Sie bewegt sich zwischen der Idee des perfekten Menschen und der Erfahrung seiner Versehrtheit. Bei Jo Stone findet sich das Vermittelnde in dem „Freiraum, der zwischen dem Wunsch meiner Figur, vollkommen zu sein, und ihrem realen Körper existiert. Da hinein begibt sich der Tanz.“

„Nike“ von Jo Stone läuft heute und morgen, 20 Uhr, bei den „Tanztagen“ in den Sophiensälen, Sophienstraße 18, Mitte

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