Vergessen Sie Manhattan!

Unter dem Titel „Dencity“ fährt eine New Yorker Aktionsgruppe die Kunstszene in den Stadtteil Williamsburg. Mit Laptops und DJs begibt man sich auf die Suche nach verfallenen Fabrikgebäuden und Müllaufbereitungsanlagen

Für 1.500 Dollar Mindestmiete im Monat reißen sich die Jungkreativen um Wohnraum in dem lange Zeit vergessenen Hinterland

Ankommen? Gibt es nicht. Keine Szene, die am Busfenster vorüberzieht, wird so bleiben, wie sie ist. Schon werden einige Etagen der rohen, verfallenen Fabrikgebäude umgebaut zu offenen Studioräumen, mit Holzböden, geweißelten Wänden und Heißluftgebläsen. Für 1.500 Dollar Mindestmiete im Monat reißen sich die New Yorker Jungkreativen darum, einziehen zu dürfen in dieses für lange Zeit vergessene Hinterland zwischen Brooklyn, Queens und Long Island City – fern von Supermärkten, Cafés und jeder Infrastruktur. Aber wen stört es schon, statt eines Waschsalons eine Müllaufbereitungsanlage ums Eck zu haben, wenn er sich endlich ein wenig so fühlen kann wie die ersten Pioniere, die vor fünf, sechs Jahren aus Manhattans East Village über den Fluss hinüberzogen nach Williamsburg.

Heimo Lattner, Erin McGonnigle und René Gabri, die mit ihrer „Dencity“-Bustour die noch unentdeckten Gegenden der Stadt zum Beobachtungsgebiet machen, gehörten zu denen, die vor einigen Jahren auf der Suche nach billigem Wohnraum die Fabriken, Lagerhäuser und Arbeiterbuden Brooklyns entdeckten. Damals dachten sie nicht im Traum daran, dass „hier einmal die Leute mit Krokohandtaschen entlangschlendern und Williamsburg zum artifiziellen Konsumviertel wird“. – „Es ist noch gar nicht so lange her, dass Williamsburg vor allem wegen seiner Verschmutzung, durch leer stehende Lagerhäuser und wegen der hohen Verbrechensrate bekannt war“, schildert Lattner.

Die Künstler ließen sich davon nicht stören. Sie zimmerten ihre Wohnräume und Studios aus Sperrmüll und billigen Materialien zusammen und begannen den rauhen Charme des Industrie- und Arbeiterviertels mit Boheme-Ambiente weichzuzeichnen. Lattner, derzeit Stipendiat am Whitney Museum of American Art, stellte Holzboxen, die seinem Loft-Zimmer nicht unähnlich sahen, in Londons ICA und dem Musée d’Art contemporaine in Lyon aus. Ex-Whitney-Stipendiat Gabri nutzte die Industrielandschaften als Drehort für seine Videos. Und McGonnigles Soundperformances gewannen vor dem Hintergrund der verfallenen Fabrikgebäude noch an Nachdruck.

Doch was vor fünf Jahren als echtes Abenteuer anfing, bereitete am Ende das perfekte Gelände für einen Yuppie-Abenteuerspielplatz vor. Den unabhängigen Off-off-Galerien folgten Cafés und Boutiquen. Williamsburg ist zum neuen Szeneviertel New Yorks geworden. Und wer von den ehemaligen Fabrikarbeitern nicht das Glück hat, ein Zimmer untervermieten zu können, musste längst in eines der Viertel ziehen, das weiter weg ist von der Subway und der tollen Sicht auf die Skyline von Manhattan. An Orte also, die für die neuen Williamsburger nicht wirklich von Interesse sind – zumindest noch.

„Natürlich machen wir uns Gedanken darüber, ob wir mit unserer Bustour nicht den Leuten genau die Stadtteile zeigen, die zu den nächsten Szenevierteln werden könnten und damit die Abdrängung beschleunigen“, meint Lattner. Aber aufhalten lässt sich der Prozess ohnehin nicht mehr. Das einzige, was die drei Gründer der Künstlergruppe e-xplo mit ihrer Performance bewirken können: dem Publikum die Augen öffnen für die Existenz der Hinterstadt, für die Unterwelt, für Daten und Fakten, Geschichten und Hintergründe, die längst verdrängt wurden aus dem Alltag der auf Party, Unterhaltung und Konsum fixierten Szenewelt. Gabri hofft zumindest, dass „die Leute gezwungen werden, sich und ihre Umwelt in Frage zu stellen“.

Schon der Begriff „Dencity“ macht den weiten Rahmen kenntlich. Zusammengesetzt aus „dense“ (dicht, gedrängt, beschränkt), „den“ (Lager, Höhle, Bau) und „city“ (Stadt) wird hier nicht nur mit den Worten gespielt: So führt die nächtliche Bustour heraus aus dem Teil Williamsburgs, wo sich die Szene so gemütlich eingenistet hat, damit klar wird, wie groß die Bedrängnis und Enge außerhalb der eigenen Grenzen ist.

Wie Touristen werden die Performance-Teilnehmer in einem Luxusbus herumgefahren. Doch statt als Fremdenführer die vorbeiziehenden Sehens(un)würdigkeiten zu erläutern, mixen Lattner und McGonnigle auf ihren Laptops live Straßenaufnahmen, Geräusche und Klangversatzstücke zu Electronica. Mit diesem Sound untermalt, führt die Tour an verfallenen Fabrikgebäuden vorbei, durchs schäbige Hinterland von Manhattan, dessen Skyline sich hin und wieder als spektakuläres Panorama hinter einer Mauer, einem Stacheldrahtzaun oder einem alten Friedhof erhebt. Irgendwann passiert der Bus auch ein paar der insgesamt achtundzwanzig Müllaufbereitungsanlagen, die innerhalb eines Umkreises von knapp neun Kilometern in und um Williamsburg herum verteilt sind. Den Schwefelgeruch der mit Abgasen geschwängerten Luft, die sich über den Wasserbecken einer der Anlagen ansammelt, können nicht einmal die Lüftungsanlagen im Luxusbus wegfiltern.

Williamsburg ist eine der verseuchtesten Gegenden von New York City. Aus einem lecken Tank flossen vor ein paar Jahren 75,7 Millionen Liter Öl und Benzin in den Boden. Die Schadstoffkonzentration ist 60-mal so hoch wie der Landesdurchschnitt für bewohnte Gegenden, und täglich kommen 46 Prozent aller Emissionen der Stadt dazu. Die Krebs- und Asthmaraten sind hier mit am höchsten. „Ich kann gar nicht glauben, wie jemand in Williamsburg seelenruhig mit dem Kinderwagen einen Schaufensterbummel machen kann“, meint Lattner. Eine junge Frau ist dagegen schlichtweg begeistert vom spröden Reiz der Altlasten-Architektur: „Hier würde ich gerne leben“, sagt sie. „Das wäre cool.“ Vielleicht geht ihr Wunsch demnächst schon in Erfüllung.JOSEFINE KÖHN