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Männer in Netzstrumpfhosen

Hauptsache sauber kotzen: Thomas Vincents Film „Karnaval“ erzählt eine Dreiecksgeschichte unter 15.000 Narren

Es gibt wohl nur wenige öffentliche Massenveranstaltungen, die so sehr polarisieren wie Karneval. In or out of the party? Einfach nur Zuschauer sein kann man nicht – auch wer unfreiwillig Bonbons ins Gesicht geworfen bekommt oder Zoten ins Ohr, wird Teil der Spaßkultur. Der bayrische Satiriker Gerhard Polt drehte schon vor Jahren einen Film („Kehraus“), bei dem ein Karnevalsbetriebsfest zum Horrortrip wird. Wer nicht mitsingt oder -säuft, ist automatisch „a Oarsch“ und gehört in die Fresse geschlagen.

Soziale Segregation ist auch die Folge des Karnevals im nordfranzösischen Dünkirchen. In Thomas Vincents Film „Karnaval“ ist diese allerdings brüchig und scheinbar durchlässig – sogar für den „Ausländer“ Larbi. Der Franzose mit algerischen Eltern hat die Nase voll von der Autowerkstatt seines Bruders, vom ewigen Regen, vom Blick auf die immer scheißgraue Nordsee und von diesen fröhlich saufenden Männern in Netzstrumpfhosen und den Frauen mit ihren bunten Hütchen, die ihn in den engen Räucherkneipen fragen: Wer bist du denn, Süßer?

Aber der junge Mann fühlt sich auch angezogen von dem fremden Trubel. Vor allem von der supersüßen Bea, von Sylvie Testud fast schon grandios proletarisch gespielt in ihrer Zerrissenheit zwischen Sehnsucht nach „dem Anderen“ und der treuen Solidarität mit dem Vorhandenen, ihrem Ehemann also. Der ist so besoffen, dass Bea und Larbi ihn in seiner Frauenverkleidung die Treppe hochschleppen müssen. Und schon ist es geschehen um Larbi.

Eigentlich wollte er ja den ersten Zug nach Marseille nehmen, „weil da immer die Sonne scheint“. Stattdessen steht er fortan stundenlang im Regen vor Beas Haus und wartet auf eine Möglichkeit, sie zu treffen. Bea weist ihn rau zurück, dann wieder lässt sie ihn näher kommen. Einmal sogar haben sie eine halbe Stunde zu zweit. Ansonsten ist anscheinend die ganze Stadt als Beobachter präsent.

Bea versucht, ihren Verehrer unsichtbar zu machen, indem auch er ein kleines Hütchen aufgesetzt bekommt. So macht er sich zwar zum Deppen, aber wenn man „sauber kotzen“ kann und Lieder über „Titten“ in allen Erscheinungsformen mitsingt, kann einem als Algerier in Dünkirchen nicht viel passieren.

Oder doch? Der Regisseur hält seinen Film geschickt in der Schwebe. Vielleicht ist man schon übersensibilisiert durch hiesige Nazis, aber ich hatte dieganze Zeit über – Karnaval spielt in genau 24 Stunden – Angst, dass Larbi irgendwann einfach so erschlagen wird.

Vincent Film wirkt auf mehreren Ebenen authentisch. Sylvie Testud und Clovis Cornillac, ihr Ehemann in „Karnaval“, haben viele Szenen – zum Beispiel einen heftigen Streit im Supermarkt – frei improvisiert. Auch den Dünkirchener Karneval hat Vincent nicht nachgestellt, sondern mitten im Getümmel gefilmt.

Zuerst waren die Dünkirchener gegen die Dreharbeiten: „Wir mussten lange erklären, dass wir uns nicht über sie lustig machen wollten.“ Dann stand das Filmteam vor dem Problem, dass alle immer in die Kamera winkten und Mutti grüßten. „Versuch mal, inmitten von 15.000 Narren zu drehen.“ So setzte Vincent auch kostümierte Statisten ein, die die Kamera umringten. Sogar das Team war in Jeckenuniform.

Diesen nahen Kontakt zum Volk merkt man dem Film „Karnaval“ an. Er denunziert die Karnevalisten nicht, und er entwickelt eine sensible Dreiecksgeschichte. Am Ende hat man als Karnevalshasser fast Lust, im Januar mal nach Dünkirchen zu fahren. ANDREAS BECKER

„Karnaval“. Regie: Thomas Vincent. Mit Sylvie Testud, Amar Ben Abdallah, Clovis Cornillac. Frankreich 1998, 88 Min., OmU

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