: Streitkultur statt Leitkultur
Verunsicherung, Irritationen und Konflikte sind in einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft unvermeidlich. Wer Religionsfreiheit für sich einklagt, muss auch die Meinungsfreiheit der anderen akzeptieren
von HEINER BIELEFELDT
Religiöser und weltanschaulicher Pluralismus bringt Spannungen und Konflikte mit sich. Dafür gibt es in Deutschland derzeit genügend Beispiele. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen häufig die hierzulande noch immer ungewohnten Symbole islamischer Präsenz: Moscheebauprojekte und Anträge auf Durchführung des islamischen Gebetsrufs führen vielerorts zu heftigen Protesten. Verbitterung und Unterstellungen auf allen Seiten ist vielfach die Folge davon.
Der „Duisburger Muezzin-Streit“ hat vor ein paar Jahren sogar international für Schlagzeilen gesorgt. Auseinandersetzungen um das Kopftuch in der Schule – man erinnere sich an den Fall Fereshta Ludin – beschäftigen Schulverwaltungen und Gerichte. Es geht jedoch nicht allein um den Islam. So hat der Anspruch auf islamischen Religionsunterricht (in Berlin und anderswo) eine Debatte um Sinn und Ausgestaltung des schulischen Religionsunterrichts – auch des christlichen Religionsunterrichts – neu entfacht. Man könnte die Liste der Beispiele erweitern.
Nicht immer bleiben die Auseinandersetzungen in den Bahnen ziviler Konfliktaustragung. Verschiedentlich haben Bürgermeister, die sich für den Bau einer repräsentativen Moschee aussprechen, Drohbriefe erhalten. Das vom Stadttheater Heilbronn inszenierte Bühnenstück „Corpus Christi“ konnte im vergangenen Jahr nur unter massivem Polizeischutz aufgeführt werden, weil man gewalttätige Ausschreitungen christlicher und muslimischer Fundamentalisten befürchtete. Verunsicherung, Irritationen und Konflikte sind in einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft vermutlich unvermeidlich. Sie sind Fakt und können nicht schöngeredet werden.
Religiöse und weltanschauliche – darunter auch religionskritische – Überzeugungen können, wenn sie wirkliche Überzeugungen sind, nicht auf den privaten Bereich beschränkt bleiben. Sie richten sich unweigerlich nach außen, drängen auf sichtbare und hörbare Manifestation, suchen öffentliche Anerkennung oder auch Widerspruch, wollen sich verständlich machen oder auch provozieren. Dabei geht es nicht allein um inhaltliche Fragen des Bekenntnisses und der rechten Lebensführung, sondern oft auch um die Behauptung der eigenen individuellen und gemeinschaftlichen Identität, das heißt also um Fragen von Respekt und Gleichberechtigung, Zugehörigkeit und Abgrenzung, Heimatrecht und Fremdheitsgefühl.
Konflikte in der religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft werden sich deshalb allein durch allgemeine Toleranzaufrufe nicht aus der Welt schaffen lassen. Umso wichtiger ist es, Leitlinien für einen vernünftigen Umgang mit derartigen Konflikten zu finden, berechtigte Ansprüche zu identifizieren und sie, so weit wie möglich, zum Ausgleich zu bringen. Den Menschenrechten, insbesondere der Religionsfreiheit, kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige orientierende Funktion zu. Denn Menschenrechte sind nicht nur für die Rechtsordnung im engeren Sinne maßgebend, sondern sie prägen darüber hinaus auch die politische Kultur und den öffentlichen Diskurs in der freiheitlichen Demokratie.
Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist im Grundgesetz als allgemeines Menschenrecht verbürgt. Sie gilt demnach nicht nur für deutsche Staatsangehörige, sondern genauso für Menschen anderer Staatsangehörigkeit und ist außerdem keineswegs auf die Anhänger der in Deutschland traditionell heimischen Religionen beschränkt. Jeder Versuch, eine religiös verstandene „abendländische Leitkultur“ von Staats wegen durchzusetzen, müsste deshalb über kurz oder lang in Widerspruch zum Menschenrecht auf Religionsfreiheit geraten. Auch Muslime oder andere Angehörige religiöser Minderheiten haben selbstverständlich Anspruch auf Anerkennung ihrer Religionsfreiheit. Insofern haben muslimische Vereine gute Argumente für sich, wenn sie zum Beispiel ihre Anträge auf den Bau von repräsentativen Moscheen auf die Religionsfreiheit stützen.
Doch Religionsfreiheit ist nicht das Privileg der Mitglieder der großen Weltreligionen – etwa der Christen und Muslime. Als universales Menschenrecht schließt sie auch die Angehörigen kleiner Religionsgruppen ein, die man in Deutschland oft abfällig als „Sekten“ bezeichnet.
Die Religionsfreiheit beinhaltet jedoch keinen religiösen Bestandsschutz oder Ehrschutz – etwa vor religionskritischen Zeitungsartikeln oder Karikaturen. Gerade bei muslimischen Repräsentanten stößt man gelegentlich auf das Missverständnis, die Religionsfreiheit stelle die Religionen als solche unter Schutz. Vielmehr geht es um die Freiheit der Menschen, ihr Leben in religiösen und weltanschaulichen Fragen selbst zu bestimmen, sich ohne Angst vor Repression oder Diskriminierung zu einer Religion oder eben auch zu keiner Religion zu bekennen und ihr Leben als Einzelne und in Gemeinschaft mit anderen ihrem Bekenntnis gemäß zu gestalten.
Die Religionsfreiheit schützt daher immer auch interne Minderheiten, Abweichler, Dissidenten, „Häretiker“, Konvertiten und andere „Grenzgänger“. Zwar haben Religionsgemeinschaften das Recht, sich nach Maßgabe ihrer Glaubensüberzeugungen von anderen abzugrenzen; sie dürfen eine solche Abgrenzung jedoch nicht mit Mitteln der Repression oder Verunglimpfung leisten.
Die Religionsfreiheit eröffnet den Religionsgemeinschaften auch die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit zu wirken und an allgemeinen politischen Debatten mitzuwirken. Das verbreitete Schlagwort von der „Trennung von Religion und Politik“ erweist sich deshalb als falsch oder zumindest als irreführend. Es könnte, wörtlich genommen, sogar einem staatlichen Autoritarismus den Weg bahnen.
Nicht eine pauschale Trennung von Religion und Politik ist gefordert, sondern eine institutionelle Trennung von Religion und Staat – was etwas anderes ist, da der Staat in einer freiheitlichen Gesellschaft ja nicht das Monopol des Politischen hat. Um der Religionsfreiheit willen ist der Staat in religiösen und weltanschaulichen Fragen zu „Neutralität“ verpflichtet; er darf sich nicht mit einer bestimmten Religion identifizieren.
Diese „Neutralität“ des säkularen Rechtsstaats hat mit einem allgemeinen Wertneutralismus übrigens nichts zu tun, gründet sie doch auf dem Respekt vor der religiösen und weltanschaulichen Freiheit der Menschen. Sie schließt außerdem konkrete Kooperationsverhältnisse des Staates mit den Religionsgemeinschaften keineswegs aus – solange das Gebot staatlicher Neutralität gewahrt bleibt. Die Legitimität des konfessionellen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen hängt deshalb beispielsweise auf Dauer daran, dass es gelingt, einen solchen Religionsunterricht auch für muslimische Schülerinnen und Schüler (und darüber hinaus für die Angehörigen sonstiger Religionen und Weltanschauungen) zu ermöglichen.
Ein letzter Aspekt: Als ein fundamentales Menschenrecht steht die Religionsfreiheit in einem systematischen Zusammenhang auch mit anderen Menschenrechten, etwa dem Recht auf Meinungsäußerung, der Kunstfreiheit oder auch der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wer diesen Zusammenhang auflöst und die Religionsfreiheit isoliert, nimmt ihr – gewollt oder ungewollt – ihren freiheitlichen Sinn. Um ein Beispiel zu geben: Wer für sich selbst und seine eigene religiöse Gemeinschaft das Menschenrecht auf Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, gleichzeitig aber wenig Achtung zeigt vor dem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit (das selbstverständlich auch religionskritische Meinungsäußerungen einschließt), wird sich zumindest Inkonsequenz vorhalten lassen müssen.
Und wenn einige konservative Christen oder Muslime neuerdings die Wiedereinführung des Gotteslästerungsparagrafen fordern, können sie sich auf Religionsfreiheit jedenfalls nicht berufen. Bereits Kant hat darauf hingewiesen, dass in einer freiheitlichen Republik der Rechtsfriede nicht mit Konfliktlosigkeit gleichgesetzt werden kann – und zwar schon deshalb nicht, weil das Recht dem Anspruch nach wesentlich Freiheitsrecht ist. Freiheit aber beinhaltet immer auch die Freiheit zum Anderssein, zum Widerspruch und zur öffentlichen Kontroverse. Politische Konflikte, die sich aus religiösem und weltanschaulichem Pluralismus ergeben, lassen sich in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht mit einer verbindlichen „Leitkultur“ eindämmen. Gefordert ist statt dessen eine Streitkultur, die an Menschenrechten und Religionsfreiheit Maß nimmt.
Heiner Bielefeldt arbeitet im Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und ist zugleich Privatdozent für Philosophie an der Universität Bremen.
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