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Tanz die Dialektik der Aufklärung

■ Bei der Premiere von Urs Dietrichs Tanzstück «Passionen.Passagen‚ im Schauspielhaus durften sich die nach einer Stunde Workout restlos ausgepumpten neun Klasse-TänzerInnen einen frenetischen Applaus abholen. Zurecht

Geruch wie in einem Möbelhaus. Holz und Leim, als sei die Bühne gerade erst fertig geworden. Dabei sieht's aus, als würde der Raum schon lange dastehen, halb vergessen und halb verwittert. Wir befinden uns im Keller der Moderne. Katrin Plötzkys grauschmuddelige Halle, in der schon lange wohl nicht mehr das gemacht wird, wofür sie einst entstand – Sport? Industrieproduktion? –, erinnert an die klaustrophobischen Räume Anna Viebrocks. Und die zweite Hälfte des Titels «Passionen.Passagen‚ evoziert auf dem Umweg über Benjamins Spätwerk das Bild der Ruine.

Die neueste choreografische Arbeit des Bremer Tanzleiters erweist sich als ruinös und fragmentarisch. «Passionen.Passagen‚ beginnt leise, ganz leise. Mit Joseph Reinbergers sakralromantischem Chorstück «Bleib bei uns, denn es will Abend werden‚, das wie aus weiter Ferne erklingt. Schleichend wird der (dys)funktionale Raum von den Oberlichtern her in güldenes Licht getaucht. Aufklärung. Oder besser: ein romantisches Bild davon. Der Gedankenraum Aufklärung-Romantik bildet auch eine Art Blue-print der gut einstündigen choreografischen Arbeit Urs Dietrichs. Aus kleinen Klappen in den Wänden kriechen die Tänzerinnen und Tänzer, grau gewandet, eher formel- als vorteilhaft gekleidet – wie nur knapp dem Outsourcing entgangenes mittleres Management.

Anders als im faszinierend abstrakten «every.body‚ arbeitet Dietrich hier mit konkreteren Zeichen. Man könnte fast sagen, dass «Passionen.Passagen‚ nach der Bewegungserkundung im letzten Herbst oder dem melancholischen «P/M‚ ein explizit politisches Stück darstellt. Wenn diese Einordnung denn so leicht fiele beim Tanz.

Kaum hat das Ensemble die Bühne geentert, entspinnt sich eine furios-chaotische Sequenz. Kaum zu überblicken, weil alles gleichzeitig abläuft. Da werden Begrüßungsrituale durchgehechelt, Tritte und Schläge angedeutet, Blicke ausgetauscht, vernichtende, aber auch liebevolle.

Ein taumelndes Workoutprogramm, das einer Zeit entstammt, in der der Schrecken der Arbeit gebannt ist, aufgelöst wurde in omnipräsenter Oberfläche. Man fühlt sich erinnert an die ewigen Verwechslungen in Ellis «American Psycho‚, an die Gleichgültigkeit des 80er-Yuppietums. Dietrich lässt Überlebenstechniken andeuten: Rücken werden beklopft, man stellt sich einander in den Weg, umkreist und ignoriert einander. Unterhaltsam wie verstörend. Was ist Spiel, was Ernst?

Die mehrfach codierte Hektik kulminiert im zweiten Satz des achten Streichquartetts von Schostakowitsch, einer orgiastischen Rhythmusmaschine, die gewalttätig in die Szene einbricht, selbst noch das sich aufschaukelnde Geschrei übertönt. Eine Spannung, die erst nach knapp drei Minuten Entladung in plötzlicher Ruhe endet. Und mit fast leerer Bühne. Diese kurze Eingangssequenz so ausführlich zu beschreiben, ist vor allem deshalb geboten, weil Dietrich hier die Pole der Grundüberlegungen zu «Passionen.Passagen‚ direkt aufeinander zu stoßen scheint. Die Textur des Gegenwärtigen, bei der man nicht weiß, ob Martial Arts-Anleihen schon zum fröhlichen fitness-Programm gehören oder noch zum Geschäftsgebaren, kontrapunktieren das romantisch gesättigte Bild der Harmonie zu Beginn.

Wie, scheint Dietrich zu fragen, vollzieht sich die Begegnung der Geschlechter, aber auch die Begegnung von Ich und Körper. Figuren werden von den Türklappen des Bühnenraumes verschluckt, grau in grau, und sind weg, als wären sie nie da gewesen. Passend zur trostlosen Mächtigkeit des Raumes erklingt ein Drone, in dem ab und an Soundschleifen aufscheinen. Noch eine Szene: trippelnde Diagonale bis zur Bühnenmitte, die Schwingungen von Kopf und Körper als Thema mit Variationen. Die Tänzerin legt sich unter einer Decke zur Ruhe.

Allein die Hand scheint pausenlos zu sabbeln, sie krampft und zuckt, während der Körper daliegt. Die anderen kommen herein, knien in Jacke und Unterwäsche, reißen eine Hand hoch, übers Gesicht – erstarrter Schrei –, stürzen plötzlich auf die Liegende los, entreißen ihr die Decke, ein wildes Spiel beginnend. Aus dem wärmenden Objekt der Begierde wird ein Spielball, bis nach einem Veitstanz nur zwei Figuren übrigbleiben.

Sie umkreisen einander, lautlos, er reizt sie mit der Decke wie der Torrero den Stier, umfängt sie zärtlich. Und über der Bewegung, der geahnten oder angehaltenen Bewegung, ein klirrendes und klingelndes Getön. Mann und Frau: „Sind zwei zuviel, um frei zu sein. Oder brauch ich dich, um Ich zu sein?“ meinten einst Blumfeld zu diesem Thema.

In dieser zentralen Szene wiederholt Dietrich die Ununterscheidbarkeit von Sexualität und Gewalt, diesmal im privaten, intimen Bereich. Immer wieder markieren die Passionen einen transitorischen Ort, an dem Leidenschaftliches das den Körper bannende Regelwerk durchbricht. Jenen Ort also, wo das Unheimliche, Verdrängte, das als archaisch Wahrgenommene sich manifestiert, wie die Gewalt in «Fight Club‚ oder die gefährliche Sexualität in den Filmen David Lynchs. Keine ganz zufälligen Assoziationen vielleicht, schließlich haben sie mit «Passionen.Passagen‚ gemeinsam, dass sozialpsychologische Theorie in ein zwangsläufig nicht-geschlossenes ästhetisches Etwas überführt werden. Dieser virtuose Kurzschluss des Diskursiven mit dem Sinnlichen fasziniert.

«Passionen.Passagen‚ ist zeitmegäßes Tanztheater, gerade weil es mit Andeutungen arbeitet und Fragen stellt. Denn weder die archaische Runenformation gegen Ende, eine Selbstinszenierung der Meute in weißer Unterwäsche und schwarzen Stiefeln, noch die Reprise des (nun alles andere als erhaben wirkenden) Rheinberger-Stücks am Schluss sind als Auswege lesbar.

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Tim Schomacker

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