Poetisches Elend in Mülllandschaft

■ Neu im Kino: Die Ratten und Jungs in Lynne Ramsays „Rat-catcher“ leben traurig, aber auch schön, manchmal sogar lustig

Einen Rattenfänger hätte Glasgows Elendsviertel dringend nötig gehabt: Zum ganz normalen Schmutz der heruntergekommenen Sozialwohnsilos kommt noch der liegengebliebene Müll von Wochen, denn Anfang der 70er Jahre streikten dort wochenlang die Müllmänner, und zwischen den stinkenden Plastikbeuteln entwickelte sich ein Paradies für die kleinen Nager. Eine Hölle ist ein Leben in diesem Milieu dagegen für den 12jährigen James: ein dünnes, trauriges Bürschlein, das statt Ratten zu fangen lieber das Mäuslein im Elternhaus vor der Mausefalle rettet, es mit Käse zutraulich macht, nur damit der betrunkene Vater es später im Klo hinunterspült. Das tut dem sensiblen Träumer weh, wie so vieles andere. Er schleppt viel Schuld auf seinen kleinen Schultern, weil er glaubt, seinen besten Freund im Kanal ertränkt zu haben.

In Großbritannien gibt es eine lange Tradition von Filmen über das proletarische Milieu. Aber der Debütfilm der schottischen Regisseurin Lynne Ramsay ähnelt nur auf den allerersten Blick den Filmen Ken Loachs.

Gleich die erste Einstellung zeigt einen Jungen, der sich wie schwebend, in weißen Stoff gehüllt, um sich selber dreht. Die Zeitlupe wird abrupt beschleunigt, der Junge wird von seiner Mutter aus dem Kokon der Wohnzimmergardine gezogen – seine kleine Flucht in eine Traumwelt ist zuende.

So wird der ganze Film radikal aus der Sicht der Kinder erzählt. Meist folgt die Kamera James bei seinen Tagesabläufen, in denen er sich mit dem trunksüchtigen Vater, einer heillos überforderten Mutter und zwei petzenden Schwestern herumplagen muss. Der Blick ist eher poetisch als dramatisch. Während in den gängigen Sozialdramen immer alles zum Schlimmsten kommt, und man schon vorher weiß, dass ein saufender Vater am Ende auch noch seine kleine Tochter miss-braucht, zeigt dieser Film eher das Alltägliche des Elends. Dieser Film geht da viel feinfühliger, und deshalb nur umso gnadenloser vor.

Das Gegenbild zur deprimierenden Tristesse, die Ramsay nie romantisiert, liegt in der Poesie. Der Junge träumt sich aus der Misere in ein Idylle auf dem Land, in der er friedlich mit seiner Familie leben kann: genauso unrealistisch wie der Wunsch seines bekloppten Freundes, seine Maus an einem roten Luftballon zum Mond schweben zu lassen. Aber Ramsey lässt die Maus (im Traum) tatsächlich durchs Weltall schweben. So etwas würde Ken Loach nie drehen. Aber trotz solcher surrealen Schönheiten und des Witzes, verschwindet die Trauer nie ganz . Wilfried Hippen

Kino 46, OmU, Do-Sa 20.30 Uhr, So-Di 18.30 Uhr