Kein Fisch am Klavier

Seit 1896 gehört die „New York Times“ derselben Familie. Adolph Ochs und seine Erben machten sie zur mächtigsten Zeitung der USA. Als „Wächter der Freiheit“ hat sie sich nicht immer bewährt

von KEVIN MCALEER

An der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert glich die New Yorker Presse einem Treibhaus für Sensationsgier. Unter der Führung von Randolph Hearsts New York Journal und Joseph Pulitzers World blühte der Boulevardjournalismus der „Yellow Press“. Andere Zeitungen mussten sich meist diesem Niveau anpassen, wenn sie im Konkurrenzkampf bestehen wollten.

Das änderte sich erst 1896, als Adolph Ochs eine kleine Zeitung namens New-York Times kaufte. Der Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer und Eigentümer der Chattanooga Times versuchte umgehend, seine New Yorker Zeitung von den skandalsüchtigen Blättern abzugrenzen, unter dem Motto: „All the News That’s Fit to Print.“ Mit anderen Worten: Artikel mit Überschriften wie „Ein Fisch, der Klavier spielt“ und „Frau greift zur Peitsche“, wie sie damals bei The Sun oder dem Herald regelmäßig erschienen, würde der Verleger Ochs in seiner Zeitung nicht dulden.

Das war löblich, aber nur ein Teil von Ochs’ Taktik: Die Leser wurden schließlich nicht nur vom gehobenen Ton des Blattes angezogen, sondern eher von gutem altem Geschäftssinn. Während des spanisch-amerikanischen Krieges 1898, als Herald und Journal exklusive Berichte vom Kriegsschauplatz brachten, senkte Ochs den Preis der Zeitung von drei auf einen Cent, um die Auflage zu erhöhen. Aufgrund dieser Verbindung aus kaufmännischer Klugheit und journalistischer Integrität galt die „Old Grey Lady“ Times 1935, als Ochs starb, als beste Zeitung des Landes.

Die New York Times schmückt sich mit dem Versprechen, „die Nachrichten unparteiisch zu bringen, ohne Furcht oder Voreingenommenheit“. Dieses Versprechen hatte 1896 zuerst Ochs abgegeben. Laut Susan E. Tifft und Alex S. Jones, den Verfassern von „The Trust: The Private and Powerful Family Behind The New York Times“, war und ist dieses Bekenntnis zur Wahrheit „die Seele“ der Zeitung. Ochs’ Schwiegersohn Arthur Sulzberger ging sogar noch weiter: Während seiner Zeit als Herausgeber, von 1935 bis 1961, eignete sich das Blatt mit Sulzbergers eigenen Worten „einen Kreuzzugsgeist an, der uns an die vorderste Front stellt, wo Unrecht geschieht“. Die Kreuzfahrer hatten ihre Chance während des Holocaust. Die Times berichtete gründlich über die ans Licht gekommenen Barbareien der Nazis – nur: diese Einzelheiten wurden auf den Innenseiten des Blattes vergraben; diese Nachrichten waren zwar tatsächlich „zum Drucken geeignet“, nicht jedoch, um groß auf der ersten Seite aufgemacht zu werden. Wie sein Schwiegervater wollte Sulzberger verhindern, dass die Times als „jüdisches Blatt“ erschien und damit vielleicht eine antisemitische Reaktion auslöste.

Doch dazu kam es nie. 1946 überstieg die Auflage zum ersten Mal in der Geschichte der Zeitung die Millionengrenze, und die Times sprach sich selbst die Rolle eines „Wächters der Freiheit“ zu. Während der Fünfzigerjahre brachte die Zeitung Leitartikel gegen den McCarthyismus und die Rassentrennung in den Südstaaten und verweigerte sich als eine der ersten der Berichterstattung, die nach Rassen unterschied. Die Chattanooga Times, Ochs’ erste Zeitung und nach wie vor im Besitz der Familie, verlor in jenen Jahren Abonnenten, weil sie Todesanzeigen für Schwarze und Weiße auf derselben Seite brachte – im Süden galt die Apartheid sogar für die Toten in den Zeitungsspalten.

Obwohl die Times einen vorwiegend liberalen Ruf genoss, hatte sie auch „eine lange Tradition als Beschützer der Regierung“. Es ist kennzeichnend, dass sie im August 1945 als einziges Blatt von der US-Regierung über den bevorstehenden Abwurf der Atombomben informiert wurde. Sie besaß auch Vorausinformationen über die bevorstehende Invasion in der Schweinebucht und die Beteiligung des CIA daran, verzichtete jedoch darauf, die Nachrichten zu bringen, weil sie fürchtete, damit in die nationale Politik einzugreifen und Castro (der ohnehin Bescheid wusste) zu helfen. In der kubanischen Raketenkrise zeigte die Times noch größere Zurückhaltung und unterstützte dann sogar die Tonkin-Golf-Resolution aus dem Jahr 1964, die über ein militärisches Vorgehen der USA in Vietnam entschied. In ihren Leitartikeln wurde sie jedoch zu einer „glühenden Taube“, nachdem sie die Überzeugung gewonnen hatte, dass der Landkrieg nicht zu gewinnen war. 1971 hatte die Zeitung nach Meinung vieler ihre beste Stunde: mit der aufsehenerregenden Veröffentlichung der „Pentagon-Papiere“. Aus dieser geheimen, von der Regierung in Auftrag gegebenen Dokumentation ging hervor, wie das amereikanischen Volkes von einer Regierung nach der anderen systematisch über den Vietnamkrieg getäuscht worden war.

Die Familie hinter der New York Times hat die Zeitung immer eher als „öffentliche Institution denn als Privatbesitz“ betrachtet. Im Laufe der Jahre ist diese Institution zu so etwas wie einem journalistischen höchsten Gerichtshof geworden – oder sollten wir sagen: höchsten Wesen? Der New Yorker sprach der Zeitung einen göttlichen Tonfall zu: „Nicht des Gottes der Bibel oder des Koran, sondern des Gottes eines Philosophen – Spinoza vielleicht.“ Spinoza, der säkulare jüdische Rationalist, ist ein gelungener Vergleich, denn er bietet den Schlüssel zu dem, was an der Zeitung besonders „jüdisch“ war. Dieser Frage geht das Buch aus dem Wege, obwohl es doch den Anspruch erhebt, sich mit der Verbindung zwischen der New York Times und der „Familie hinter ihr“ auseinander zu setzen. Die Verfasser scheinen zu glauben, ihr Buch müsse diese Frage nicht behandeln, weil der Ochs/Sulzberger-Klan nicht religiös war und sein Judentum nicht hervorhob. Aber genau hier liegt der entscheidende Punkt. Die traditionelle jüdische liberale Kultur hat ihr Judentum per se immer heruntergespielt und sich den Glauben an die vernunftbegabte Menschheit und eine universale Wahrheit zu eigen gemacht. In einer Welt, in der die Epistemologien der christlichen Offenbarung, Tradition und Autorität im allgemeinen gegen die leidende und verfolgte jüdische Minderheit in die Waagschale geworfen wurden, hat das moderne, weltlich gesinnte Judentum gewohnheitsmäßig seine Zuflucht in der Rationalität der Aufklärung gesucht. Dieser liegt als leitendes Prinzip die Vorstellung zugrunde, dass es eine objektive Wahrheit gibt, dass man sie mithilfe der abstrakten Vernunft erreichen und eine gute und gerechte Gesellschaft schaffen kann. Vernunft = Wahrheit = Glück.

Amerika hat niemals so wie Europa im zwanzigsten Jahrhundert eine Krise der liberalen Kultur erlebt. In der Neuen Welt blieben diese liberalen moralischen Gewissheiten unerschüttert. Im Gegensatz zu europäischen Zeitungen, die kein Geheimnis aus ihren politischen Neigungen machen, erscheint der redliche Anspruch, der WAHRHEIT eine Heimstatt zu bieten, den amerikanischen Zeitungen eigentümlich und ist das definierende Merkmal der führenden amerikanischen Zeitung, der Times. Sicherlich wirkt das eigenartig angesichts der relativistischen multikulturellen amerikanischen Gesellschaft unserer Tage. Nichtsdestoweniger versprach in den Neunzigern der fünfte Herausgeber der Times, Arthur Ochs Sulzberger jr., „unsere Suche nach der Wahrheit fortzusetzen“, womit er dem ersten Versprechen seines Urgroßvaters treu blieb, eines Mannes, der im Unterschied zu seinen Herausgeber-Zeitgenossen weder Geld noch politische Macht oder Bekanntheit anstrebte, sondern einfach „Bewunderung“. Seine Nachkommen haben danach gestrebt, sich diese Bewunderung zu bewahren, mittels ihres Verantwortungsgefühls gegenüber der Zeitung als der Verkörperung ihres guten Familiennamens. Dies fällt als weiteres Merkmal jüdisch-amerikanischen Lebens ins Auge: der Versuch, sich zu assimilieren, indem man nach öffentlicher Anerkennung strebt, oder in diesem Falle, sich Amerikas Vertrauen erwirbt.

In einer geschliffenen und makellosen Prosa haben uns Tifft und Jones einen erschöpfenden Bericht über die Familienfehden, Mesalliancen und Nachfolgekämpfe um die herausragende Position des „Herausgebers“ geliefert. Nach einer herkulischen Forschungsarbeit waren sie zudem entschlossen, mit verblüffendem Genuss auch den letzten Informationsbrocken aufzusammeln. Und das Erstaunliche ist: als Leser genießt man das. Die Geschichte ist so fesselnd wie die Buddenbrooks, führt uns jedoch ohne Kulturpessimismus und Verfall durch das zwanzigste Jahrhundert. Und schließlich: verfügt die Familie der Zeitung mit dem hohen moralischen Ton über die gleichen respektablen Normen? Oder ähnelt die Old Grey Lady eher dem viktorianischen Gentleman mit seinen öffentlichen Moralbekundungen, die in seinem eigenen Privatleben keine Rolle spielten? Keine Spur. Sie ist wirklich die Old Grey Lady. Wenn man auf Skandal und Korruption aus ist, auf richtigen Schmutz – dann schaut man sich am besten „Citizen Kane“ an.

(Übersetzung: Meino Büning)

Susan E. Tifft, Alex S. Jones: „The Trust. The Private and Powerful Family Behind the New York Times“. 870 Seiten, Back Bay Books 2000, 22,44 EUR.(Sollte man VIEL Zeit haben: „The Trust“ ist auch als Hörbuch von Soundelux Audio Publishing lieferbar, ca. 32 EUR).