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Zwischen Zuhause und Zentrum

Ins Max-Bürger-Zentrum für Jugendpsychiatrie gehen die Jugendlichen wie in eine Schule. Sie kommen morgens und gehen nachmittags nach der Therapie. Doch nun soll das Zentrum umziehen, vom zentralen Charlottenburg an den Rand der Stadt

von KATJA BIGALKE

Zum Max-Bürger-Zentrum kommt man ganz einfach von der Straße. Durch ein kleines Tor in der Platanenallee in Charlottenburg. Man durchquert einen Garten mit hohen Linden, am anderen Ende ist der Eingang der vierstöckigen Klinker-Villa. Die Tür ist nicht verschlossen. Die Eingangshalle in hellen Gelb- und Orangetönen wirkt freundlich und einladend.

Das Max-Bürger-Zentrum ist eine von fünf Berliner Tageskliniken für psychisch kranke Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren. Zu den Krankheitssymptomen der Jugendlichen zählen unter anderen Borderline-Störungen mit Selbstverletzungen, Angstneurosen, Essstörungen, Psychosen mit Halluzinationen oder depressive Störungen mit Suizid-Gedanken. „Beziehungs- und arbeitsunfähig“, sagt der psychologische Leiter der Einrichtung, Michael Neumann.

Vor Beginn der Therapie leben die Jugendlichen häufig vollkommen zurückgezogen, igeln sich zu Hause ein, über Monate. Nach einer 2- bis 3-wöchigen diagnostischen Phase im Max-Bürger-Zentrum verlagert sich ihr Lebensmittelpunkt schließlich in die Platanenallee. Hier frühstücken die Jugendlichen, gehen zur Schüle, spielen Tischtennis, Scrabble und Kicker. Und nachmittags, nach der Therapie, gehen sie wieder nach Hause.

Zwischen dem Zuhause und dem Max-Bürger-Zentrum liegt die Stadt. Durch diese müssen die Jugendlichen, mit der U-Bahn, zu Fuß, mit dem Kopf. Das mit dem Kopf ist für viele der 22 Jugendlichen am schwersten: „Am Anfang hatte ich enorme Komplexe. Hab mich beobachtet gefühlt, die Leute angestarrt. Ich kam mir immer sehr alleine vor“, sagt die 16-jährige Carolin. Davor war die Angst, das schulische Versagen, dann die Bulimie. „Als das anfing und ich meinem Körper willentlich geschadet habe, hab ich Hilfe gesucht.“ Das Essen ist immer noch Thema – „Hab ich zu viel gegessen? Ich habe mich vollgefressen!“ Sie schaut an ihrem zierlichen Körper herunter. „Nein, ich möchte nur einen halben Teller.“ Aber jetzt kann sie mit jemandem reden. Auch an den Weg zur Klinik hat sie sich gewöhnt.

Viele der Jugendlichen hatten zunächst Platzangst in der U-Bahn. „40 Minuten Anfahrt stoßen absolut an die Belastbarkeitsgrenze“, sagt die Psychologin Astrid Deingruber. Für die ehemalige Patientin Nadine war der Weg an „schlechten Tagen“ sogar richtige „körperliche Anstrengung. Manchmal dache ich, ich kollabier in der U-Bahn.“ Und das hat nicht nur mit Panik zu tun, sondern damit, dass der Weg zum Zentrum eine Gratwanderung ist. „In eine Teilzeitklinik gehen statt zur Schule, da denken viele, du bist nicht ganz dicht“, sagt sie. Nadine hat sich damals für alle möglichen Dinge geschämt. Zum Beispiel dafür, dass sie einen Unfall hatte und Krücken tragen musste. Deswegen ist sie ein halbes Jahr nicht zur Schule gegangen, hat dann in einem Jahr fünfmal die Schule gewechselt, auf der Suche nach einem Ort, der passt. Der war dann die Tagesklinik, von der die Oma zwei Jahre nichts wissen durfte. Heute ist sie Krankenschwester. Dass es ihr immer noch ab und zu schlecht geht, findet sie normal, auch dass sie in solchen Situationen noch in der Klinik anruft. Meistens hält sie es aber aus mit sich, wie sie sagt.

Das „Nicht-dicht-Sein“ als Teil von sich zu begreifen, ist die erste Erfahrung, die die Jugendlichen machen, wenn sie hier hinkommen. Alle haben Probleme. Das, was Außenstehende zunächst schockiert – die ständige Kommentierung und Beobachtung symptomatischer Verhaltensweisen durch die anderen Patienten, durch die Betreuer –, ist für die Jugendlichen vollkommen normal. Auslachen gibt es nicht, nach einer Weile auch keine Angst mehr. Die Offenheit, mit der sie über sich selber reden kann, macht Carolin sogar ein bisschen stolz. In Sachen Selbstkenntnis fühlt sie sich vielen Jugendlichen ihres Alters überlegen.

Normalität hat viel mit geregelten Tagesabläufen zu tun. Mit einem normalen Aussehen, um das sich die Jugendlichen augenscheinlich bemühen. H & M ist auch hier ein Name, Turnschuhe und Jeans sind die Regel. Normalität hat aber auch damit zu tun, wie man Dinge benennt. Wenn der ehemalige Patient Oliver morgens losging, hat er zum Beispiel immer gesagt: „Ich geh ins Mosse, so wie andere gesagt haben, ich geh zur Sophie-Charlotte-Schule.“ Das klang dann normal. Mosse, das war einfach der Name der Straße, in der das Zentrum letztes Jahr lag – vor dem Umzug in die Platanenallee.

An den Umzug kann sich der zwanzigjährige Martin noch gut erinnern. „Vier Wochen gingen für Ein- und Auspacken drauf, Unterricht ist ausgefallen.“ So richtig fühlt er sich immer noch nicht wohl in den neuen Gebäuden. „Zu eng, zu kleine Terrasse.“ Auch das Essen sei schlechter geworden, schmecke nicht mehr wie vorher, obwohl es wohl dasselbe sei. Es dauert mindestens vier Wochen, um sich einzugewöhnen. Alles das, was unbekannt ist, schafft Durcheinander, verlangsamt den Prozess der Heilung. Ein Monat ist viel in einer Therapie, die die Krankenkassen teilstationär nicht länger als eineinhalb Jahre bezahlen.

Aber nach kaum einem Jahr Aufenthalt in der Platanenallee hat der Senat beschlossen, dass das Zentrum schon wieder umziehen soll. Das Gelände an der Platanenallee soll verkauft, das Zentrum an den Stadtrand verlegt werden. In die Gebäude der Spandauer Nervenklinik Griesingerstraße.

Die Idee, morgens in dem einzigen Bus in Richtung Nervenklinik zu fahren, macht den Jugendlichen Angst. „In die Klapse halt“, sagt Carolin und will sich gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. Über Neumanns Szenario mit dem Bus, in dem „der einzige Nicht-Irre der Busfahrer ist“, lachen alle, hoffen aber, dass es nicht so weit kommt. Neumann kann den Umzugsvorschlag nicht nachvollziehen. Der Standort sei zu weit entfernt, die Einrichtung unzureichend. Außerdem würden auf dem Gelände in Spandau sonst nur Alkoholiker behandelt. „Für die Jugendlichen ist das keine besonders geeignete Umgebung.“

In der Platanenallee haben die Jugendlichen Anbindung an den Bezirk. Einmal in der Woche gehen sie in eine ganz normale Schule. Sie gehen Schwimmen oder fahren nach Kreuzberg zum Aikido, haben ihre Hausärzte um die Ecke. Das gehört mit zum Konzept der Teilzeitklinik. In der Vorentlassungsphase schließlich machen die Jugendlichen ein Praktikum. Dann frühstücken sie morgens im Zentrum, fahren zu ihrem Praktikumsplatz und kommen zum Mittagessen wieder zurück, erzählen, wie es ihnen ergangen ist, womit sie Probleme hatten.

All das wäre am Stadtrand nicht mehr möglich. Die Anfahrtswege sind weit, die Anbindung ist schlecht. Deshalb kämpfen Leiter und Jugendliche darum, den Standort zu behalten. Eine öffentliche Anhörung gab es bereits im Februar. Da hatten sich alle Parteien gegen den Senatsplan ausgesprochen. Morgen wird nun der Gesundheitsausschuss des Abgeordnetenhauses entscheiden.

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