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Die große Schwester

Cavidan Seyitcemaloglu kam 1973 nach Deutschland und studierte Germanistik. Ihre Schwester Gülümser blieb in der Türkei und schloss sich einer linken Gruppe an. Nun kämpft Cavidan um das Leben ihrer Schwester, die sich im Todesfasten befindet

Für die Regierung ist sie Terroristin, für Cavidan die Schwester mit dem LächelnNach 176 Tagen Hungerstreik kämpft Gülümser mit Gedächtnisverlust

von HEIKE KLEFFNER

Für die türkische Regierung ist Gülümser Seyitcemaloglu eine Terroristin, für das deutsche Außenministerium allenfalls ein Ärgernis in den diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Ankara. Für Cavidan Seyitcemalogul ist sie einfach „die kleine Schwester mit dem wunderbaren Lächeln“.

Eine Woche lang ist Cavidan durch Berlin gerannt – gegen verschlossene Türen und übervolle Terminkalender von Abgeordneten, Parteienvertretern und Beamten. Immer mit der Angst im Nacken, dass „alles zu spät sein könnte“ und ihre sieben Jahre jüngere Halbschwester ins Koma fällt, während sie wieder einmal darauf wartet, dass ihr jemand zuhört.

So wie jetzt, in einem Café in Kreuzberg. Zwei Termine mit Journalisten hat Cavidan heute noch. Während ringsherum Touristen Milchkaffe trinken und behutsam Erdbeerkuchen auf kleinen Kuchengabeln balancieren, erzählt sie davon, wie ihre Schwester hungert.

„Heute sind es 176 Tage“, sagt Cavidan ruhig. Nur die schmalen Hände, mit denen sie die Zigarette zwischen den leicht geschminkten Lippen anzündet, zittern bei diesem Satz. Vor einer Woche hat Cavidan bei einem Telefonat mit dem gemeinsamen Vater in der Türkei erfahren, dass Gülümser nach einem knappen halben Jahr Hungerstreik inzwischen mit Gedächtnisverlust und Gleichgewichtsstörungen kämpft.

Seitdem sich die 32-jährige Gülümser dem so genannten Todesfasten mehrerer hundert politischer Gefangener in der Türkei angeschlossen hat, telefoniert ihre 39-jährige Schwester fast täglich mit der Familie in der Türkei. Oder sie durchforstet im Internet die türkischen Zeitungen nach Neuigkeiten über die ergebnislosen Verhandlungen zwischen der Regierung, Menschenrechtsorganisationen und den Gefangenen.

Die wichtigste Frage stellt sie immer am Anfang: Wie viel wiegt Gülümser noch? Früher hat die 1,65 cm große Schwester knapp 60 Kilo gewogen – und immer befürchtet, sie wäre „zu dick“. Inzwischen ist Gülümser Seyitcemaloglu auf weniger als 40 Kilogramm abgemagert. Offene Wunden in der Mundhöhle machen selbst das Schlucken der täglichen sechs bis acht Liter Wasser – Gülümsers einziger „Nahrung“ – zur Qual.

Mit jedem Tag, den die Schwester hungert, falle es ihr schwerer, den eigenen Alltag zu bewältigen, sagt Cavidan. Eigentlich müsste sie jetzt in Hannover sein, wo sie nach ihrem Germanistikstudium eine Fortbildung zur Redakteurin begonnen hat. Müsste Geld mit Übersetzungen von deutschen Sachbüchern für türkische Verlage verdienen. Stattdessen kämpft sie mit ihrer Schüchternheit, lässt sich sogar fotografieren und bettelt in Berlin um Gehör.

Am liebsten würde sie ihrer Schwester laut „Hör auf!“ entgegenschreien. Politischen Diskussionen mit Gülümser ist sie bei ihren sporadischen Besuchen in der Türkei schon immer aus dem Weg gegangen. Die habe es ihr leicht gemacht und auf politische Agitation verzichtet. „Wir haben lieber über die Familie gelästert und einfach eine gute Zeit gehabt“, sagt die schlanke Frau mit dem modischen Kurzhaarschnitt und den dunklen Augenringen. Als Cavidan 1973 mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester nach Deutschland kam, war die kleine Schwester gerade zwei Jahre alt geworden. Von da ab sahen sich die Geschwister nur noch unregelmäßig.

Es sind Bruchstücke zweier unterschiedlicher Lebensläufe, die Cavidan in sorgfältig formulierten Sätzen, manchmal durch ein leichtes Anheben der Hand betont, schließlich preisgibt. Während sie in Bremen Sprachwissenschaften studierte, schrieb sich die jüngere Schwester an der Universität in Istanbul für Politikwissenschaften ein. Und wurde das erste Mal verhaftet, weil sie gemeinsam mit Kommilitonen das Büro des Dekans besetzte.

Als Cavidan das nächste Mal Istanbul besuchte, war Gülümser schon wieder aus der Haft entlassen. Sie habe es vermieden, ihre Schwester nach Lebensperspektiven und Träumen zu fragen, sagt Cavidan. „Dann hätten wir unweigerlich über ihre politische Organisation gesprochen, und das wollte ich nicht hören.“

Von der türkischen Linken in Deutschland hatte sich die Ältere da schon distanziert. Über die Gründe spricht sie nur verhalten: Der Machismo habe sie abgeschreckt, sagt sie schließlich: „Ich bin Kurdin und Alevitin, aber keine Sozialistin oder Marxistin-Leninistin.“

Die Entscheidung Gülümsers, sich einer orthodox-kommunistischen Kaderorganisation anzuschließen, habe sie trotzdem akzeptiert. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei seien nun mal so, dass sie nach Veränderungen schreien würden.

Deutlichere Worte vermeidet Cavidan, die 1995 die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, aus Angst, beim nächsten Besuch in der Türkei abgewiesen oder schikaniert zu werden. Sie, die mit zwei Sprachen spielerisch jonglieren kann, wiegt in diesen Tagen jedes Wort vorsichtig ab, sucht nach diplomatischen Formulierungen. Fragen über Diskriminierungen als Migrantin in Deutschland weicht sie aus. „Schließlich bitte ich gerade die Politiker des Landes, dessen Staatsbürgerin ich bin, zum ersten Mal in meinem Leben um Hilfe“, sagt sie trocken.

Dann erzählt sie leise von dem letzten Besuch bei Gülümser. Da saß die jüngere Schwester schon vier Jahre im Gefängnis, nachdem sie 1995 wegen Mitgliedschaft in einer maoistischen Gruppierung zu dreizehn Jahren Haft verurteilt worden und in der Polizeihaft schwer gefoltert worden war. „Das Schlimmste war, dass wir uns nicht berühren konnten, weil wir durch ein Doppelgitter voneinander getrennt waren.“ Trotzdem schmiedeten die Schwestern Pläne, träumten von einem Ausflug ans Meer, scherzten über Gülümsers besorgte Nachfrage nach ihrem Aussehen.

Als sie hörte, dass Gülümser sich im Dezember letzten Jahres dem Hungerstreik der politischen Gefangenen angeschlossen hatte, habe sie laut „Scheiße“ ins Telefon gerufen, erinnert sich Cavidan. Sie kann die Angst ihrer Schwester vor einer Verlegung in die neuen F-Gefängnisse verstehen, in denen die politischen Gefangenen anstatt in Großgruppen in Einzel- oder Dreierzellen und fast vollständiger Isolation von sozialen Kontakten inner- und außerhalb der Gefängnismauern eingesperrt werden sollen. Die Inhaftierten seien dort staatlichen Willkürmaßnahmen und Mißhandlungen nahezu unbegrenzt und schutzlos ausgesetzt, kritisieren nicht nur Angehörige, sondern auch Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international.

Cavidan ist überzeugt, dass ihre Schwester die sieben Jahre, die sie noch in der Frauenhaftanstalt Gebze absitzen muss, unter den Haftbedingungen im F-Typ nicht überleben würde. Deshalb teile sie die Forderung nach der Abschaffung des Artikel 16 des Strafvollzugsgesetzes; keinesfalls wolle sie sich jedoch für die Ideologie der Organisationen stark machen, denen die Hungerstreikenden angehören, oder sich für deren politische Ziele einspannen lassen.

Ein Drahtseilakt für die gesamte Familie. Cavidans und Gülümsers 71-jähriger Vater, ein pensionierter Grundschullehrer, ist seit dem Hungerstreik in einer Angehörigenorganisation beim Menschenrechtsverein IHD in Izmit aktiv. Empört berichtet Cavidan von deren Zusammenkunft mit einer Delegation aus Deutschland. Den verzweifelten Eltern und Geschwistern sei vorgeworfen worden, ihre Unterstützung sei an dem Andauern des Hungerstreiks schuld.

„Wenn wir Gülümser jetzt sagen, dass sie aufhören soll, wird sie sich völlig verlassen fühlen und trotzdem nicht aufhören“, ist sich Cavidan sicher. Deshalb hofft sie, dass ihr Gespräch mit einer Mitarbeiterin im Außenministerium vielleicht doch noch bis zu Joschka Fischer dringt. Und dass der sich dann bei seinem türkischen Amtskollegen nach dem Gesundheitszustand von Gülümser und ihren Mitgefangenen erkundigt.

15 Gefangene und vier Angehörige haben sich in den letzten Monaten zu Tode gehungert. Jedes Mal, wenn das Telefon in ihrer Wohnung in Hannover klingelt, schrickt Cavidan auf. Sie weiß, dass nach dem hundertsten Tag bei Wasser und Vitamin-B 1-Pillen alle Gesundheitsschäden dauerhaft sein werden.

An ihrem Traum hält Cavida Seyitcemaloglu trotzdem fest: die Schwester zum Erholungsurlaub auf eine karibische Insel einzuladen. Dann streicht sie mit den Händen übers Gesicht und korrigiert: Wenn sie Gülümser zur Behandlung ins Zentrum für Folteropfer nach Berlin holen könnte, wäre sie glücklich.

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