piwik no script img

LABOUR LÜGT SICH GROSSBRITANNIEN SO, WIE ES VOR WAHLEN SEIN MUSSBlairs wunderbare Welt

Brixton ist einer von diesen Stadtteilen Londons, an denen der Hauptstadtboom vorbeigegangen ist. Die Sozialwohnsiedlungen werden mehrheitlich von geringverdienenden Schwarzen bewohnt und sind ziemlich heruntergekommen, an der Hauptstraße sucht die Polizei Zeugen für das Niederbrennen eines Linienbusses, und im Sozialamt herrscht drangvolle Enge. New Labour? Das klingt hier wie ein Wort von einem anderen Stern. Denn das soziale Gefälle wird immer krasser. Neues Geld strömt in Nachbarviertel wie das propere Clapham. Während London insgesamt gesehen reicher und exklusiver wird, herrscht in Gegenden wie Brixton eine Unzufriedenheit, die vor einiger Zeit noch nicht zu spüren war und bloß noch keinen Anlass gefunden hat, um sich zu artikulieren. Den Anschluss an Tony Blairs New Britain hat man hier jedenfalls verpasst.

Vom sozialen Gefälle spricht Labour im zu Ende gehenden Wahlkampf nicht, genauso wenig wie von den im „Millennium Dome“ verschleuderten Milliarden, vom Zusammenbruch des Eisenbahnnetzes, von der steigenden Steuerlast oder von der rebellischen Stimmung in den ländlichen Gegenden, in denen die Maul- und Klauenseuche gewütet hat und nun die Bauern zunehmend aufgeben. Es ist unglaublich: Ein Premierminister, dessen Partei in den Umfragen uneinholbar führt, muss sich in friedlichen ländlichen Kleinstädten, wo seit Jahrhunderten nichts Aufregendes passiert ist, wie ein Schwerverbrecher durch Hintereingänge in scharf bewachte Säle mit handverlesenem Publikum stehlen, um Wahlkampfreden zu halten. Dennoch dürfte er als Wahlsieger enden, während seine Gegner zwar ein paar Wahlkreise gewinnen, aber machtlos bleiben werden (siehe dazu den Kommentar von Robert Misik in der gestrigen taz, 5. 6. 01, S. 11).

In weiten Regionen Englands ist Labour nicht nur nicht existent – das war schon immer so –, sondern als Regierungspartei auch vehement verhasst. Blairs Reaktion ist erstaunlich und typisch zugleich: Er geht auf seine Kritiker nicht zu, sondern ignoriert sie oder beschimpft sie gar. Er sagt verärgerten Wählern nicht, dass er ihre Nöte versteht, sondern dass sie die falschen Fragen stellen. Wenn Bürger Probleme haben, haben sie selbst Fehler gemacht, nicht die Regierung. So sehr ist Blair von sich überzeugt.

Folgt die Regierung dieser Logik weiterhin, muss sie über kurz oder lang ganze Teile der Gesellschaft abschreiben. Der Erfolg der Regierung Blair beruht darauf, dass sie große Teile der gesellschaftlichen Entwicklung einfach ausblendet und sich für nicht zuständig erklärt, gleichzeitig aber in gewissen, sorgfältig ob ihrer Mehrheitsfähigkeit ausgesuchten Bereichen einen geradezu beängstigenden staatlichen Aktionismus an den Tag legt. Sie ist machtlos und übermächtig zugleich. Sie ist machtlos gegen die sich weiter öffnende soziale Schere zwischen Arm und Reich, gegen das wachsende Wohlstandsgefälle zwischen dem Londoner Raum und dem Rest Großbritanniens, gegen die zunehmende Verständnislosigkeit zwischen Stadt und Land, Schwarz und Weiß, Jung und Alt. Aber sie beansprucht für sich in ihrem Wahlprogramm wirkungsvolle Zehnjahrespläne zur völligen Neukonzeption des staatlichen Handels und der öffentlichen Dienstleistungen: Das Gesundheitswesen, das Bildungssystem, die Verkehrsplanung, die staatliche Wohlfahrt – all dies wird revolutioniert, glaubt man Blair. Der Staat gibt die Richtung vor, und alle sollen folgen: private Investoren, die die versprochenen Wohltaten finanzieren sollen, genauso wie die Bürger, die ihr Verhalten den Geboten der globalisierten Marktwirtschaft anpassen mögen.

Wer auf der Strecke bleibt, ist eben selbst schuld, denn man hat ihm ja Chancen geboten. Doch es wirkt zumindestens merkwürdig, wenn eine Regierung unter Androhung der Wohlfahrtskürzung von jungen Arbeitslosen verlangt, sich innerhalb von sechs Monaten dem Arbeitsmarkt anzupassen, und zugleich den eigenen Wahlkampf mit dem Argument führt, die ersten vier Jahre an der Macht seien viel zu wenig und man müsse 2001 Labour wählen, damit die Partei endlich ihre Versprechen von 1997 erfüllt.

Natürlich wählen die Leute Blair trotzdem. Aber nicht, weil sie ihm vertrauen, sondern weil es keine Alternative gibt. Vor dieser merkwürdigen Wahl lässt sich die britische Stimmung so zusammenfassen: Die Richtung stimmt schon, aber irgendwie geht zwischenzeitlich das Land vor die Hunde. Auf kurz oder lang dürfte dieses gespaltene Bewusstsein die Briten überfordern. DOMINIC JOHNSON

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen