: Diffuse Traumbegegnungen mit der Amazone
■ Kaum markant choreographisch: „The Britten Evening“ zum Auftakt der 27. Hamburger Ballett-Tage
Der Auftakt der 27. Hamburger Ballett-Tage stand unter einem schlechten Stern. Rainer Trost, der mit seinem Wunsch an John Neumeier, Benjamin Brittens Serenade für Tenor, Horn und Streicher zu singen, wesentlich zur Idee dieses dreiteiligen The Britten Evening beigetragen hatte, konnte wegen Krankheit nicht auftreten. Und die Erste Solistin des Hamburg Balletts, Elizabeth Loscavio, auf die der junge, aus New York eingeladene Choreograf Christopher Wheeldon so große Stücke gesetzt hatte, verletzte sich kurz vor der Premiere. Doch an der hervorragenden Silvia Azzoni, die Loscavios Part übernahm, hat es wohl kaum gelegen, dass die Choreografie VIII des erst 28-jährigen Wheeldon zu Brittens Variationen auf ein Thema von Frank Bridge neben Jirí Kyliáns Vergessenes Land von 1981 und der Uraufführung von Neumeiers Stimme der Nacht seltsamerweise uralt aussah.
Die Geschichte von Englands König Heinrich VIII. diente ihm als Folie. Carsten Jung gibt einen ausdrucksstarken Regenten im Konflikt mit zwei seiner sechs Frauen (Silvia Azzoni, Heather Jurgensen), die ihm keinen Sohn gebären. Wheeldon zeichnet dabei vor allem ein dezidiert filmischer Blick aus. Geschickt operiert er mit visuellen Effekten, mit Verschiebungen von Vorder- und Hintergrund, Zentrum und Peripherie. Er schafft Stimmungen, baut Hierarchien auf, die ein Narrenquartett dann aber immer wieder durchkreutzt. Wie im Breitwandkino ziehen imposante Bilder auf und vorüber.
Weder musikalisch noch in der Bewegungsfindung dringt Wheeldon jedoch unter die Oberfläche. Hinzu kommt die Geschmacksverirrung zwischen Disney und 70er-Schick seines Ausstatters Jean-Marc Puissant. Jirì Kylians Vergessenes Land – zwar schon 20 Jahre alt – steht da zu Brittens Sinfonia da Requiem an Tiefe und Kraft nach wie vor wie ein Fels in der Brandung. Anna Grabka, die zum Ende der Spielzeit aus dem Tänzerberuf ausscheidet, zeigte hier einmal mehr ihr Können. Auf den schwierigen Pfad zwischen naiver Unschuld und verstörendem Verlangen begibt sich Neumeier in Stimme der Nacht. Lloyd Riggins schickt er in diffuse Traumbegegnungen mit einer athletischen Männerriege und einer Frau, Joelle Boulogne, die zuerst als verderbliche Schlange, dann als kesse Amazone auftaucht. Überzeugend gelingt es dem Tenor James Taylor, die feinsinnige Lyrik in Brittens Liederzyklus zur Geltung zu bringen. Markus Lehtinen führte das Philharmonische Staatsorchester einfühlsam durch einen musikalisch vielschichtigen Abend. Ein Abend der Musik und der Tänzer, weniger der Choreografie.
Irmela Kästner
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