Das Ende der Spekulationen

Gleich auf der ersten Alpenetappe zeigt Lance Armstrong, dass er kaum gewillt ist, sich den dritten Tour-de-France-Sieg in Folge streitig machen zu lassen – auf der zweiten bestätigt er dies auch noch

von JÖRG FEYER

Am Ende, als sein Tagewerk vollbracht war und noch während die Nachzügler mühsam die letzten Kilometer hinaufkurbelten, nahm er selbst und zum ersten Mal auf Französisch das Wort in den Mund. Jenes, das das „Eurosport“-Kommentatorengespann Klaus Angermann und Tony Rominger schon zwei Berge zuvor ventiliert hatte, eher ungläubig freilich, da sich der Mann im blauen Trikot noch immer im hinteren Teil des Spitzenfeldes versteckt hielt. Ja, gestand Lance Armstrong jetzt und für seine Verhältnisse fast vergnügt, heute habe er „gepokert“.

Mehr noch: Der Texaner, der gerade die 21 Kehren nach Alpe d’Huez mit der gewohnt hohen Trittfrequenz und kleiner Übersetzung in der drittschnellsten Zeit seit dem Etappendebüt 1952 hinaufgeflogen war, räumte sogar Schauspielerei ein. Denn wollen die Fernsehkameras, die längst auch in die Autos der Sportlichen Leiter der Konkurrenz übertragen, nicht aus den Gesichtern der Rennfahrer lesen, wie es um ihre seelische und körperliche Konstitution bestellt ist? Also hielt Armstrong sein Gesicht einfach vor eine Motorradkamera und tat so, „als ob ich leide“. Auch einen Tag später, beim gestrigen Bergzeitfahren, sah es beinahe spielerisch aus, wie Armstrong hinaufflog nach Chamrousse, erneut das komplette Feld distanzierte und auch Jan Ullrich, der als Zweiter ins Ziel kam und nun 3:34 Minuten hinter Armstrong liegt, weitere 60 Sekunden aufbrummte.

Der regiert die Tour also nicht mehr nur als erster Mensch, der den Krebs besiegte, sondern seit Dienstag auch mit medialem Bluff. Dieser war ihm durchaus zuzutrauen, denn schimmerte unter der regungslosen Maske schierer Willensmacht nicht immer auch ein Stück Verschlagenheit? Das offene Visier zeigte Lance Armstrong nämlich erst dann, als andere die Arbeit getan hatten, auch für ihn, allen voran die Team-Telekom-Edelhelfer: Der unvermutet starke Kevin Livingston und vor allem Tour-Debütant Andreas Klöden hatten – Jan Ullrich im Windschatten-Schlepptau – in den Anstiegen zum Col de la Madeleine und zum Col du Glandon unermüdlich Tempo gemacht, damit ihr Chef „keinen Stress kriegt“ (Klöden), sprich: das Feld dezimiert wird. Doch dann, kaum dass die Spitze im finalen Berg war, kam der Blick über die Schulter, mit dem Armstrong Ullrich wohl bedeutete: Du weißt, was jetzt kommt. Und du wirst es ertragen müssen. Und Ullrich, unfähig, am Berg seinen Rhythmus zu wechseln, wusste es.

Aber musste es so kommen? Es war eine Geste der Stärke von Armstrong, wie auch sein kurzer Jubel am Zielstrich, den er schließlich knapp zwei Minuten vor Ullrich passierte. Keine ungebremste, gelöste Freude, wie sie andere Fahrer am Triumphpunkt zu zeigen pflegen, sondern eine fast verkniffene Machtdemonstration: Will es noch jemand mit mir aufnehmen? Denn was war nicht in den Tagen zuvor spekuliert worden, zumal nachdem mit Christian Vandevelde ein wichtiger Armstrong-Helfer bereits hatte aufgeben müssen. Auf dem Weg nach Alpe d’Huez am Dienstag aber wurde klar: Ein Armstrong in dieser Form braucht vielleicht gar keine eigene Mannschaft. Team Telekom ließ sich unfreiwillig vor den Karren spannen – aber der Mann aus Austin holte dann den Koffer runter.

Das Gelbe Trikot war da zwar noch nicht drin, das trug beim gestrigen Bergzeitfahren erstmals der tapfere François Simon, der zwar immer noch Vorsprung auf Armstrong, aber allein auf dem Weg nach Alpe d’Huez gut 10 Minuten auf ihn eingebüßt hat. Auch Andrej Kivilev, seit der Regenfahrt durch den Jura mit dem weit abgehängten Peloton ein kleiner Geheimfavorit, verlor 4:39 Minuten auf den Texaner. Gewiss, der Kasache aus dem Team Cofidis hat schon bei der schweren Dauphiné Libéré bewiesen, dass er die Berge besser hochkommt als die meisten. Ob das aber reicht, um die paar Minuten Vorsprung über die Pyrenäen hinauszuretten, muss nach Armstrongs erster Galavorstellung ernsthaft bezweifelt werden.

Ist die Tour also schon wieder vorbei, kaum dass sie mit der ersten Alpenetappe so richtig begonnen hat? Sollte er nicht stürzen oder eine Schwäche zeigen, dürfte Lance Armstrong am 29. Juli in Paris zum dritten Mal in Folge ganz oben auf dem Podium stehen, zumal Telekom nun im ungeliebten Zugzwang ist und attackieren muss. Und gewiss wird jetzt wieder spekuliert werden: ob der Merdinger nicht seinen Stil ändern müsste, um zumindest besser kontern zu können auf Attacken am Berg. Oder ob ein Giro zum Einrollen, die einmalige Inspektion einiger Etappen und ein verschärftes Training im Schwarzwald als Vorbereitung ausreichen.

Verglichen mit der kühlen Besessenheit eines Lance Armstrong wirkt Ullrichs Vorbereitungsprogramm wirklich lau. Andererseits: Der Ritt nach Alpe d’Huez hat den Eindruck verstärkt, dass Ullrich nicht einmal ein Höhentrainingslager auf dem Mond nutzen würde, wenn Armstrong plötzlich schier überirdische Kräfte freisetzt.