: „Wir spionieren – ja, Gott sei Dank!“
Die Kritik an der Werbebranche hat seit Naomi Kleins „No Logo“ und Frédéric Beigbeders „39,90“ wieder Konjunktur. Von Markenterror ist die Rede und von medialem Machtmissbrauch. „Werbepapst“ Sebastian Turner teilt die Vorwürfe nur bedingt. Entweder, sagt er, stehen die Produkte Schlange – oder die Menschen. Ein Gespräch über Markt und mündige Bürger, Wahlwerbung und Gucci-Jacken
von GUNNAR LEUE
Sebastian Turner, geboren 1966 in Clausthal-Zellerfeld, zählt zu den meistausgezeichneten deutschen Werbern. Zu den von ihm entwickelten Kampagnen gehört die gerade auslaufende Anzeigenserie „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ für die FAZ. Turner ist geschäftsführender Gesellschafter der Werbeagentur Scholz & Friends Berlin. Die Scholz & Friends-Gruppe gehört zu den deutschen Top-Ten-Agenturen, beschäftigt derzeit rund achthundert Mitarbeiter und arbeitet für Kunden wie DaimlerChrysler, Tchibo, Consors und Baden-Württemberg. Sebastian Turner wird nach der bevorstehenden Fusion der Firma mit der TV- und Event-Produktion United Visions einer von zwei Vorstandsvorsitzenden der künftigen Scholz & Friends AG. Außerdem ist er Professor an der Berliner Hochschule der Künste und derzeit Vorstandssprecher des Art Directors Clubs.
taz: Vom ehemaligen Imageberater des französischen Präsidenten Mitterrand, Jacques Séguéla, soll der Satz stammen: „Sagen Sie meiner Mutter nicht, dass ich in der Werbung arbeite. Sie denkt, ich bin Pianist in einem Bordell.“ Erzählen Sie Ihrer Mutter mit Stolz von Ihrer Arbeit?
Sebastian Turner: Meine Mutter weiß, dass ich nicht Klavier spielen kann. Sie würde das sofort durchschauen. Meine Familie hat ein zwiespältiges Verhältnis zur Werbung – wie der Rest der Bevölkerung. Meine Mutter hat einmal etwas in einer Meissen-Anzeige von mir gelesen, was sie noch nicht wusste. Das hat sie etwas mit meiner Arbeit versöhnt. Richtig gut findet es mein Sohn – aber auch erst, seit er weiß, dass wir Werbung für Feuerwehrautos machen.
Die Zeit ernannte Sie mal zum Werbepapst. Ähnlich der katholischen Kirche ist allerdings auch der Ruf Ihrer Branche nicht der beste. Der Franzose Frédéric Beigbeder, ehemals Werbetexter, hat in seinem spektakulären Roman „39,90“ die Verlogenheit und zerstörende Kraft der Werbung an den Pranger gestellt. Die Kanadierin Naomi Klein kritisierte in ihrem Buch „No Logo“ die Versklavung der Kunden in der heutigen Markenwelt. Geht man in der Branche mit einem Lächeln über diese Kritik hinweg?
Die angeführten Argumente sind seit vielen Jahren bekannt. Vieles von dem, was Beigbeder sagt, ist richtig. Vieles ist auch übertrieben, manches sogar gefährlich. Werbung mit Goebbels’ Propaganda gleichzusetzen, verharmlost den Nationalsozialismus.
Welche Kritik ist berechtigt?
Werbung wird gemacht, weil es einen Wettbewerb um die Käufer gibt. Volkswirtschaften lassen sich ganz grob in zwei Sorten einteilen: Entweder stehen die Produkte Schlange – oder die Menschen. In der Mangelwirtschaft DDR war Werbung Volksverhöhnung, weil es kaum was zu kaufen gab. Wenn aber die Produkte Schlange stehen, funktioniert das Wettbewerbssystem: Wenn die Verbraucher umworben werden, leben sie in Freiheit. Werbung gibt es nur dort, wo die Menschen eine Wahl haben. Das ist erst mal rundum positiv, oder?
Ja, erst mal.
Andererseits hat die Werbung sich so in unserem Alltag breit gemacht, dass man sie wie die Medien, den Verkehr, die Architektur oder andere, unseren Alltag gestaltende Formen kritisch betrachten muss. Die Verantwortung der Werbenden nimmt entsprechend zu.
Gilt nicht immer noch, dass gut ist, was hilft, gut zu verkaufen?
Ja, natürlich. Die Frage ist dabei, was hilft am besten zu verkaufen. Bei uns gab es lange den Zweifel: Ideenreiche Werbung ist schön, aber ist sie auch wirksam? Ein verantwortungsbewusster Unternehmer musste da natürlich sagen: Die Schönheit ist mir egal, meine Produkte sollen vom Hof! Tatsächlich aber ist es so, dass kreative Werbung die wirksamste ist. Das zeigen eine Vielzahl von Studien. Die Begründung ist auch sehr einfach: Penetrante Werbung hat nur bei extrem häufiger Wiederholung Erfolg. Das ist heute aber nur noch für wenige Unternehmen bezahlbar.
In der Jahresbilanz 2000 des Deutschen Werberats finden sich allerdings so viele Beschwerden wegen anstößiger Werbung wie nie zuvor.
Das ist kein Widerspruch, und diese Werbung ist nicht das Problem. Der wirklich gezielte Tabubruch findet im Rahmen der zweitausend Werbeimpulse, die jeden Menschen täglich erreichen, ziemlich selten statt.
Steht das nicht für einen Trend?
Den sehe ich nicht. Die peinlichen, beanstandeten Anzeigen betrafen meistens Dotcomfirmen. Das war ein kleiner Exzess. Eine der vielen Blasen der New Economy. Das Problem ist, dass uns die großen, bekannten Marken mit ihrer Werbung höllisch auf die Nerven gehen. Die unterfordern den Verbraucher und verkaufen ihn für blöd.
Sie selbst haben Ihren Kollegen eine Bescheidenheitsarroganz attestiert. Demnach würden die Werber auf ihr eigenes Urteil nichts geben und das Publikum für noch viel dümmer halten. Sind Werber elitäre, gewissenlose Gesellen, die sich zu Handlangern der Unternehmen machen lassen?
Nein. Aber in der Tat leben wir mit einem absurden Widerspruch. Natürlich sind die Werber in erheblichem Maße mitverantwortlich für die Niveaulosigkeit der Werbung. Es ist eine Aufgabe für die ganze Branche, das zu verbessern – mit den Auftraggebern.
Der Konsument kann der Werbung kaum mehr entfliehen. Sie drängt sich nicht nur auf, sondern geht quasi diktatorisch vor: Mit Hilfe von Trendscouts werden die Leute ausspioniert, damit man sie später in eine Abhängigkeit von bestimmten Produkten versetzen kann.
Wenn Sie sagen, die Werber spionieren die Verbraucher aus, dann heißt das doch, sie gucken genau, was die Kunden wollen. Ja, Gott sei Dank! Was wäre es für eine Verschwendung, wenn an den Bedürfnissen vorbei produziert würde. Ihr Beispiel ist ein Beleg für die Autonomie der Verbraucher: Die Werbung richtet sich eher nach ihnen, als dass sie sich nach der Werbung richten. Wir wissen, dass wir ihnen nichts andrehen können, was sie nicht haben wollen.
Vor allem fördert Werbung das Habenwollen – egal, wie nützlich das Produkt ist. Jugendliche werden besonders umworben. Laut einer Studie bevorzugen 93 Prozent der Vierzehnjährigen in Deutschland heute Markenprodukte. Vom Markenterror an Schulen ist die Rede. Geht da nicht die Freiheit des Konsumenten direkt in Zwang über?
Bei Kindern und Jugendlichen ist die Verantwortung der Werber ganz sicher größer als bei anderen Gruppen. In der Pubertät gibt es aber seit ewigen Zeiten und weltweit Verhaltensweisen, die ziemlich sonderbar sind. In der Phase zwischen Kindheit und Erwachsenwerden herrscht das Bedürfnis, sich abzugrenzen und seine Identität zu definieren. Da werden Symbole gesucht, die in der Popmusik oder eben auch in der Werbung gefunden werden. Ohne das Problem des Markenfetischismus verharmlosen zu wollen, wage ich mal den krassen Vergleich: Wenn der Erwerb einer dusseligen Gucci-Jacke für jemanden ein bestimmtes Problem löst, das sonst vielleicht mit Drogenexperimenten angegangen würde, dann ist es zumindest das kleinere Übel. Abgesehen davon scheint es schon immer ein menschliches Bedürfnis gegeben zu haben, sich darzustellen. Auch als es noch keine Werbung gab, haben sich die Wohlhabenden mit Statussymbolen umgeben. Der Massenwohlstand erlaubt es heute vielen, sich wie ein kleiner König mit entsprechenden Symbolen zu schmücken. Die Werbung spielt da nur eine kleine Blockflöte im Gesamtkonzert.
In Hamburg und Berlin gibt es Versuche, durch die Einführung von Schuluniformen wenigstens zeitweise dem Markenterror Einhalt zu gebieten. Was halten Sie davon?
Man sollte so was ausprobieren. Meiner Ansicht nach haben aber Eltern und Lehrer, die solche Versuche machen, das Problem schon längst gelöst. Das wirkliche Problem sind Schulen, in denen die Länge der Klappmesserklinge ausschlaggebend für Coolness ist. Ich kenne übrigens keine Werbekampagne, die sagt, man müsse mit Klappmessern zum Unterricht erscheinen.
Natürlich nicht, aber die Glorifizierung der Coolness wird, zusammen mit anderen Einflüssen wie Popmusik, Kino oder Freunden, auch von der Werbung betrieben.
Okay, wenn Sie Popmusik, Kino und Freunde abschaffen, dann sollte man die Werbung auch gleich mitbeseitigen. Sicher gibt es Produkte, die das Bedürfnis Pubertierender nach Coolness zu vereinnahmen versuchen. Aber das Coolseinwollen hat mit der Werbung nichts zu tun. Die Ausprägung hängt von vielen Bedingungen ab. Es kann cool sein, gegen Mittag schon besoffen zu sein, oder hundert Meter unter zwölf Sekunden zu laufen oder eine teure Lederjacke zu tragen. Ich glaube, Jugendliche spiegeln einfach die Probleme der Gesellschaft wider. Die Werbung ist da nur Statist. Man missbraucht sie aber gern als Prügelknabe, weil die Leute versagen, die eigentlich gefordert sind – als Eltern, als Lehrer, als Polizist. Das bisschen, was Werbung zur Problemlösung beitragen kann, soll sie auch tun. Aber es ist illusorisch anzunehmen, dass bei veränderter Werbung viele Probleme verschwinden.
Das Schöne für den Werber ist ja, dass man der Werbung nicht wirklich glaubt. Ist das die Voraussetzung, um wiederum bestimmte Verhaltensweisen prägen zu können?
Für mich ist es die Grundlage einer fairen Beziehung. Das Publikum weiß, dass wir etwas von ihm wollen. Und dann schaut es hin – oder eben weg. Werbung bildet ziemlich naturgetreu die Situation eines Landes ab. Das wird deutlich, wenn man auf die Rolle der Frau in der Werbung zurückblickt. Vor dreißig Jahren konnte eine Frau ein schlechtes Gewissen haben, weil sie nicht den Grauschleier aus dem Hemd ihres Mannes bekam. Sagen Sie das mal heute einer Zwanzigjährigen. Die antwortet Ihnen: Soll er doch in einem Kartoffelsack zur Arbeit gehen.
Ihre Branche rechnet sich an, die Deutschen ein bisschen relaxter gemacht zu haben?
Ist das so? Wenn ja, wäre es jedenfalls sehr verdienstvoll. Dann sollte man Werbung staatlich fördern. Es gibt ein interessantes Beispiel zur Wirkung von Werbung. In den Ländern, in denen Zigarettenwerbung zugelassen ist, gewinnen die leichten Sorten gegenüber den starken. In den stark regulierten Ländern dominieren die Marken mit hohen Werten. Bei Alkohol ist es ähnlich: Wo Werbung verboten ist, wird eher mehr getrunken.
Angenommen, dass es so ist – spricht das nicht gerade für die immense Macht der Werbung?
Jein. Wenn Werbung etwas will, was die Menschen nicht wollen, ist sie wirkungslos. Wenn sie einen vorhandenen Trend verstärkt, hat sie größeren Einfluss. Vermutlich hat der Trend zu Ökoprodukten in der Werbung einen starken Verbündeten.
Ausgerechnet die Werbung, die zum exzessiven Konsum aufruft, soll Ökolobby sein?
Sicher hat die Werbung das Ressourcensparen nicht erfunden, aber wesentlich mitgeholfen, das zu einem Breitenthema zu machen. Gerade große Unternehmen setzen auf diesen Trend. Da gibt es einen interessanten Effekt: Wenn sie das Thema in der Werbung anschneiden, setzen sie sich in die Pflicht. Da hat Werbung sogar eine höhere Überprüfbarkeit und einen höheren Wahrheitsgehalt als Journalismus – sie darf sich keine falschen Behauptungen erlauben. Der Wettbewerb sorgt dafür. Da wird sofort mit einstweiligen Verfügungen des Mitbewerbers bestraft.
Wollen Sie sagen, die Werbung sei des Verbrauchers besserer Anwalt als der Journalismus?
Nein. Werbung hat eine viel geringere Glaubwürdigkeit, weil sie ja stets eine Absicht hat. Aber Werbung verschärft den Wettbewerb der Unternehmen und treibt sie zu Verbesserungen an.
Die Werbung steht längst auch in Diensten der Politik, es gibt Werbekampagnen für Steuerreformen, Parteien und Politiker. Fördert das den mündigen Bürger oder nur den „Konsum“ von Politik?
Beides. Die Führung von Staatsgeschäften funktioniert nur im Einverständnis mit der Bevölkerung. Ganz viel vom Staatsgeschäft passiert jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und das ist schlecht. Noch schlechter ist es, wenn eine unaufgeklärte Öffentlichkeit aus dem Zusammenhang gerissene Informationen bekommt, die als empörend empfunden werden. Der ganze Bereich des Rechtsstaats ist ziemlich kompliziert und widerspricht zuweilen dem ersten Instinkt. Die Menschen fragen sich beispielsweise: Warum sollen wir einen Mörder durchfüttern? Je mehr es dem Staat gelingt, Verständnis zu wecken für das, was er vorhat, um so besser. Hierzulande sagen alle: Wir brauchen Reformen. Sobald es jedoch konkret wird, fehlt das Verständnis. Insofern ist jede Form von Kommunikation mit dem Ziel der Aufklärung richtig.
Wahlkampfwerbung als Aufklärung? Das klingt naiv.
Es kann nicht schlecht sein, wenn in einer Demokratie Parteien um die Wähler werben. Es mag da Auswüchse geben, aber wahrscheinlich ist das die vornehmste Form der Werbung. Was ist denn edler daran, für einen Joghurt Werbung zu machen, als für eine demokratische Partei, die unser Land gestalten will? In der Verachtung politischer Werbung steckt eine Hybris, die ist ganz dümmlich. Sie heißt: Ich verachte Politiker, bin aber nicht bereit, mich zu engagieren. Vielleicht sind Werbeleute noch etwas anfälliger für diese Hybris als andere, weil unsere Aufgabe im Kern einen gewissen Widerspruch hat: Wir müssen schöpferisch ziemlich gut sein, gleichzeitig werden uns die Inhalte vorgegeben. Wenn Sie darin nicht eine reizvolle Aufgabe sehen, dann belastet Sie dieser Widerspruch.
Warum ist es zur Beendigung der äußerst erfolgreichen Zusammenarbeit mit der FAZ gekommen?
Die FAZ sagt, dass sie sich auf die Einführung ihrer bundesweiten Sonntagszeitung konzentrieren möchte und deshalb die Kluge-Köpfe-Kampagne unterbrechen will.
Es gibt den Vorwurf, Ihrer Agentur würde nicht nur das Glück mit manchen Auftraggebern fehlen, sondern auch etwas Transparenz in der Unternehmensstruktur. Ist da etwas dran oder steckt dahinter nur ein neidischer Kopf?
Unsere Struktur bei Scholz & Friends ist so einfach, dass sogar ich sie verstehe. Die rechtliche Struktur, die durch das Zusammengehen mit der TV-Produktion United Visions und durch die Vorbereitung des Börsengangs vorübergehend gewählt wird, ist das Resultat juristischer Expertise, für Laien also nicht sofort verständlich. Die Struktur nach dem Börsengang ist wieder so einfach, dass man sie ohne Bedienungsanleitung begreift. Dass das Laien verwirrt, verstehe ich.
GUNNAR LEUE, 38, freier Journalist, versucht seine Söhne zu Markenignoranten zu erziehen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen