Der Fortschritt und die Hartbox

Vom Glamour der ersten Zigarette: Freiheit, Abenteuer und andere Geschmacksrichtungen in den Siebzigern. Eine kleine Semiotik der Rauchzeichen

Den ersten Zungenkuss kann man vergessen, den ersten Lungenzug nicht, so wenig wie die Standorte wichtiger Zigarettenautomaten in der Frühphase des Rauchens. Hunde wurden dorthin ausgeführt. Weiblicher Siedlungsnachwuchs traf sich dort. Er roch nach Nivea.

Eine Ahnung, wie es ist, erwachsen zu sein, bekam ich, wenn ich abends aus dem Haus ging, um Zigaretten zu ziehen. Ich war Camelraucher wie mein Onkel, und in der Entscheidung für diese Marke offenbarte sich die ideologische Differenz zum Marlboromann als dem anderen. Auf der Camellinie hatte die Vernunft Vorfahrt.

Angestrebt wurde der Genuss ohne Reue. Auf die leisen Töne kam es an. Netzer stellte ich mir als Camel-Filter-Raucher vor. In der Welt meiner Jugend steckt viel Orange und Frottee. Das war eine Partykellerwelt, in der Hifi und Stereo wie Zauberworte funktionierten. Gern stand man unter großen Kopfhörern in Plattenläden. Alles war groß, auch die Ohrringe. Zur industriell gefertigten Zigarette sagte man korrekterweise Aktive – „Haste ma’ne Aktive fürn alten Mann?“ – im Gegensatz zur Selbstgedrehten, die viel Knastgeruch verströmte.

Overstolz rauchte kaum einer mehr. Die grünen Ecksteinpäckchen gab’s noch in jedem Automaten. Dem Malocher schmeckte Reval. Ich glaube, Roth-Händle war schon eine Intellektuellenzigarette. Für Roth-Händle mit Filter wurde viel geworben. Man kam aus dem Kino und zog sofort das zerknautschte Päckchen. Das war ein Ritual, bei dem du zuerst die Zigarette gerade biegen musstest, und dann bist du noch mit der Zunge über das Papier. Feuerzeuge besaßen Prestigewert: das kitschig vergoldete für den Duft der weiten Welt und das Armeesturmfeuergerät, auch Flammenwerfer genannt, für weite Wege, Freiheit und Abenteuer.

Kannte ich einen, der HB rauchte? Jedenfalls nicht persönlich. „Leicht“ war noch nicht Mode. Stattdessen durfte es von allem ruhig etwas mehr sein. Der Fortschritt kam mit der Hardbox. Die Arbeiterjugend verfügte über drei besondere Zigarettenverwahrorte: im Socken über dem Knöchel, wahlweise im Stiefelettenschaft, im T-Shirt-Ärmel als zweite Beule neben dem Bizeps und in einer Zusatztasche, die für den Kamm bestimmt war, auf dem Schlag der Hose.

Mitglieder der Schülerselbstverwaltung durften im SV-Raum rauchen. Alle anderen mussten in die Raucherecke auf dem Schulhof, unangenehm im Winter. Die Erweiterung der Raucherlaubnis auf andere örtliche Schulbereiche ergab ein Dauerthema. Der repressive Charakter der Schulleitung entschleierte sich in ihrer restriktiven Handhabung der Raucherfrage.

Über Schnorrer – „Den kenn ich, der staubt bloß ab“ – konnte man sich aufregen. Diese studentische Großzügigkeit mit Zigaretten entsprach nicht der gesellschaftlichen Regel. Rundweg angeboten wurde selten. Der Kostenpunkt war ein Argument gegen das Rauchen. Erst wenn du dich in deinem Ferienjob bewährt hattest, hielt man dir auch mal das Päckchen hin – „Hier, nimm ruhig.“

Das kam unter Umständen väterlich. Das war schon fast eine Auszeichnung. Zwei Stäbchen wurden in der Packung locker geschnippt. Ein sorgenvoller Blick folgte im Zuge der Bestandsaufnahme. Man klopfte die Zigarette irgendwo auf. Alte Hasen schoben noch eine hinter das Ohr: links, denn rechts klemmte der Stift. Wer ohne Filter rauchte, hatte seine Zunge darauf abgerichtet, Tabakkrümmel von der Unterlippe zu zupfen. Kein Maurer rauchte Lord Extra.

JAMAL TUSCHICK