Das Verrückte, das Neue, das Unerhörte

■ Jos van Immerseel und sein Orchester „Anima Eterna“ vermittelten in der Glocke das Glück „richtig“ gelesener Noten: Die der drei letzten Mozart-Sinfonien

Leopold Mozart sprach 1756 in seinem „Versuch einer gründlichen Violinschule“ vom „richtigen Notenlesen“. Darunter verstand er keinesfalls die technisch korrekt gespielten Noten, sondern er verlangte das Verständnis des Sinnes der Komposition, er verlangte eben, vor dem Üben die Noten gründlich zu „lesen“. Dass als Folge solch analytischer Arbeit, dass mit der Einsicht in die kompositorischen Strukturen auch notwendigerweisedie Wahl der historisch richtigen Instrumente verbunden sein müsste, darüber herrscht seit der – leider mangels eines besseren Begriffes immer noch so genannten – „historischen Aufführungspraxis“ inzwischen bei den meisten interessierten MusikhörerInnen Konsens.

Zu welchen interpretatorischen Wundern die äußerste Konsequenz dieser Haltung führen kann, hat Jos van Immerseel mit seinem 1985 gegründeten Orchester „Anima Eterna“ - im Vergleich zu den Stars Nicolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner, Roger Norrington noch immer ein Geheimtipp - , beim Musikfest bereits mit Wiedergaben von Werken Schuberts und Beethovens gezeigt. Was das Verrückte, das Neue, das Unerhörte an Wolfgang Amadeus Mozarts drei letzten Sinfonien ist, provozierte in der leider nicht gut genug besuchten Glocke Ovationen.

Es ist sinnvoll, Mozarts drei letzte Sinfonien als Zyklus zu spielen: sie sind in nur zwei Monaten im Sommer 1788 in einer Zeit äußerster finanzieller Bedrängnis entstanden - es ist die Zeit der Bettelbriefe an den Grafen Puchberg - und reflektieren damit eine dramatische persönliche Situation. Immerseel und seine fabelhaften MusikerInnen verstanden es großartig, den Werken unterschiedliche Physiognomien zu verleihen. Klassisch gelassen, fast heiter geradezu die Es-Dur-Sinfonie, von auswegloser Tragik die g-Moll-Sinfonie und als krönende Apotheose zweier großer musikalischer Epochen - in der Verbindung barocker Polyphonie mit der klassischen Sonatensatzform - die C-Dur-, die „Jupiter“-Sinfonie.

Die Mittel, mit denen Immerseel diese Differenzierungen erreicht, entsprechen genau den Forderungen Leopold Mozarts. Frappierend war zunächst die Wirkung derart unerbittlich durchgehaltener Tempi: das ergibt ein Pulsieren, in das man soghaft hineingezogen wird. Die äußerste Genauigkeit der Artikulationen - Mozart unterscheidet zum Beispiel zwischen Staccato (notiert als Punkte) und „Keilen“ (notiert alsauf der Spitze stehende Dreiecke), die fast eine geräuschhafte Dimension abgeben - , ergibt rhetorische Effekte, die so stark sind, dass sie fast das reine Musizieren verlassen: eine Geste verstummt, sie insistiert, wir hören Frage- und Ausrufungszeichen. Glänzend auch das Verhältnis und Ineinander der Streicher- und Bläsergruppen und die explosive Kraft des Paukers. Selten hört man die Naturhörner so sauber und kantabel, so intonationssicher die Trompeten, selten setzen Flöten, Oboen, Klarinetten und Fagotte so exzellente, stets kammermusikalisch gedachte Akzente. Hier ist als Höhepunkt besonders der zweite Satz der g-Moll-Sinfonie zu nennen, in der die Bläser ihre Einwürfe auf einen unbeschreiblich fahlen, unwirklichen Klangteppich der Streicher setzen.

Auffällig, wie wenig sich die dreißig MusikerInnen mit den Augen an ihren Dirigenten wenden – das verweist auf eine äußerst genaue und effektive Probenarbeit. Fast geht es von alleine, auch wenn Immerseel für uns, das Publikum, ebenso unaufdringlich wie kraftvoll gestaltet. Nach Schubert-, Beethoven- und Mozartglück: bitte wiederkommen!

Ute Schalz-Laurenze