: Ein drastisch anderes Klangerlebnis
■ Detlef Bratschke, Leiter des Balthasar-Neumann-Chores, über Urerlebnisse, höchste Töne und Klänge, die ins Mark treffen. Am Sonntag folgt der Theorie die Praxis
Es ist immer wieder wunderbar, wenn InterpretInnen sich bemühen, Konzertprogramme sorgfältig zu gestalten. Eins der interessantesten des diesjährigen Musikfestes ist das des Balthasar-Neumann-Chores, der unter dem Titel „Vermächtnisse“ eine musikalische Zeitreise durch acht Jahrhunderte anbietet – a cappella, das heißt ohne Instrumentalbegleitung. Anlass genug, mit dem Leiter Detlef Bratschke ein Gespräch zu führen: Er leitet seit fast zehn Jahren den preisgekrönten Profichor und unterrichtet an der Bremer Hochschule für Künste in der Abteilung Alte Musik.
taz: Herr Bratschke, Sie haben Orgel, Kirchenmusik und Gesang studiert und ich wüsste gerne, warum Sie nicht bei der Kirchenmusik geblieben sind und wie bei Ihnen der „Kick“ für die historische Aufführungspraxis geschah?
Bratschke: Ich sah in der Kirche für mich keine musikalischen Entwicklungschancen mehr, ich wollte einfach etwas anderes machen. Die Aufführungspraxis entdeckte ich schon als Kind: Ich sang im Hannoverschen Knabenchor und da durften wir die großen Passionen von Bach mit Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt mitsingen. Ich weiß noch heute, wie mich der Klang der barocken Instrumente ins Mark getroffen hat, das war so ein richtiges Urerlebnis.
Sind Sie denn der Meinung, dass man historische Musik auch mit modernen Instrumenten machen kann, so wie Harnoncourt es heute tut und John Eliot Gardiner es ablehnt – um nur zwei Pole zu nennen?
Grundsätzlich ja. Es glückt oder es glückt nicht. Es hängt von vielen Faktoren ab, von der Einstellung und Bereitschaft der MusikerInnen zum Beispiel, Probenstrukturen zu ändern ... Als Harnoncourt mit dem Concertgebouworchester Amsterdam Mozart gemacht hat, war das ein drastisch anderes Klangerlebnis!
Sie beginnen ihr Konzert mit Werken von Perotin, also aus der Zeit um 1200. Was weiß man in dieser frühen Zeit über die Besetzung? Es haben ja wohl Mönche gesungen.
Wir singen das erste vierstimmige Stück, was es gibt: 1198. Wir haben eine Quelle, in der steht, dass die Sänger so ekstatisch gesungen haben, dass ihnen „die Zungen aus dem Hals hingen“. Die Zahl der Sänger hing natürlich von den Räumen ab.
Für die „Lagrime di San Pietro“ von Orlando di Lasso gehe ich davon aus, dass es so eine Art Art geistliche Andachtsmusik ist, also klein besetzt. Sie lassen durch den Abend die Messe für zwei vierstimmige Chöre von Frank Martin als Leitfaden immer wieder erklingen. Was hat Sie dazu bewogen? Die Messe von Martin, die er nur für sich „und den lieben Gott“ geschrieben hat, ist ein Vermächtnis: es war für mich ein tiefes Erlebnis, wie einer hier tausend Jahre Kirchenmusiktradition ganz persönlich verarbeitet, ohne neoklassizistisch zu sein. Dann suchte ich nach anderen Werken mit dem Charaker des Vermächtnisses: der „Schwanengesang“ von Heinrich Schütz gehört dazu, die „Busspsalmen“ von Lasso, die er – singulär in der Zeit – dem Papst widmet, der unglaubliche Trauergesang, den Josquin Desprez auf den Tod seines Kollegen Johannes Ockeghem schrieb und Giuseppe Verdis späte „Quattro Pezzi Sacri“...
Was hat Verdi veranlasst, am Ende seines Lebens ein geistliches A-cappella-Chorwerk zu schreiben?
Schwer zu sagen. Er hat sein Leben lang Opern geschrieben und klinkt sich nun ein in eine Chortradition, die seit dem 16. Jahrhundert ungebrochen ist. Möglicherweise faszinierte ihn die Strenge der Form, die er in freiester Harmonik präsentiert. Ich finde, da gehen Welten auf, das sind für mich eine der spannendsten Werke überhaupt.
Sie schließen mit dem sechzehnstimmigen „Lux Aeterna“ von György Ligeti. Sind dessen flächige Polyphonien nicht ein herber Kontrast zu dem neoklassischen Ansatz von Martin?
Das Konzert ist ein Experiment, das ich wagen will und das in die Hose gehen kann. Es gibt unendlich viele Beziehungen unter alle Komponisten. Ligetis Werk ist nach 800 Jahren so eine Art Vermächtnis für die a-cappella-Musik, ein Meilenstein.
Was sind die interpretatorischen Schwierigkeiten?
Das Ziel ist eine totale Klangverschmelzung, die Stimmeinsätze müssen „unmerklich“ sein, keine individuelle Stimme darf gehört werden ...
Was in jedem guten Chorklang auch der Fall ist?
Sicher, nur wird es hier mit einer Extremität verlangt, die singulär ist. Singen Sie mal ein acht Minuten dauerndes Pinaissimo in den höchsten Tönen!
Fragen: Ute Schalz-Laurenze
Konzert am Sonntag, 23.9. um 20 Uhr in Unser Lieben Frauen.
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