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Kulinarischer Knall

■ Bremens erster Saison-Start mit Tanztheater: Urs Dietrichs „Appetit“ ist gut verdaulich – und lässt Raum für mehr

„Doch hast du Nahrung, die nicht sättigt?“ fragt Faust den Mephistopheles, und verlangt damit das Unmögliche, das Urs Dietrich zu Thema seines jüngsten Tanzabends gemacht hat: Immerfort Genießen zu können, ohne Überdruss zu spüren. Ewiger Appetit also. „Appetit“.

Nach „Versus“, dem Werk zum Schönheitswahn, und „Every.Body.“, das die menschliche Mechanik thematisiert, widmet sich das Bremer Tanztheater jetzt dem Schlucken, Schlingen und Vernaschen – die sechs TänzerInnen tun das voll der naheliegenden Lust.

Die diesmal hell ausgeleuchtete, karge Bühne lässt ihnen allen Raum. Sie konzentriert sich, abgesehen von weißem Tuch, ganz auf einen Tisch von abendmahlhafter Länge, auf den so manches karge Mahl getragen wird. Akustisch geht's nicht ganz so sparsam zu. Selbst Franz-Léhar-Arien haben sich Dietrich und sein Team diesmal gegönnt, außerdem durchziehen kulinarische Knalleffekte jeglicher Art die Performance – von der explodierenden Torte bis zum Bonbonhagel. Letzterer lässt das gut besuchte Concordia zusammenzucken, es tost wie in einem wirbelsturmgeschüttelten Altglascontainer.

Dann ist die Szene geklärt, das Bühnenbild nun völlig auf den blanken Tisch reduziert. Dort produziert Gilles Welinski, allein zurück geblieben, eine kleine Nach-Explosion – mit Mehl. Sie ist Auftakt zu einem der Höhepunkte der Performance: Denn nun beginnen Sunju Kim und Welinski ein eindrucksvolles „Knet-mich-Duo“, sie als Bäckerin, er als Teig.

Als auf den Tisch zu knallender Teig. Als deformierbare Masse, als williges Opfer. Konsequenterweise gewinnt das Ganze zunehmend an Erotik, bis schließlich ein „Liebesakt mit dem Brot“ zu sehen ist. Bevor ein neues kleines Brot entsteht, fegt eines der – wohltuend sparsam eingesetzten – Synchron-Ensembles mit einer wunderbar flüssigen Body-Percussion-Szene dazwischen.

Irgendwann verringert der Tisch seine 12-Jünger-plus-Jesus-Dimension auf ein Quadrat. Und das bildet die Basis für einen weiteren, unverzichtbaren Appetit-Topos: Den endlos überquellenden Topf. Gleich dem märchenhaften Hirsebrei, der mit seinem magischen Quellen alles zu ersticken droht, schäumt das Töpflein auf die Bühne. Und noch einer unvermeidbaren Märchen-Assoziation bedient sich Urs Dietrich: Des Tischlein-deck-dich. Gleich vier davon wanken auf die Bühne, ihre TrägerInnen weißlich anstrahlend. Leider bedient die Choreografie auch eine der aktuellen Unvermeidbarkeiten: Die bühnenwirksame Nacktheit. Die fleisch-beige beunterhosten TänzerInnen spielen anmutig mit weißen Tischtüchern, decken und ent-decken ihre Möbel und können die Mutation zum Table-Dancesken nicht ganz vermeiden.

Zu einem „Appetit“-Abend gehören selbstredend Kau- und Schluckaufsequenzen, gemeinsames Meringue-Knabbern (darauf musste sich – verletzungsbedingt – Miroslaw Zydowicz beschränken) und jede Menge Futterneid.

Der Appetit zwischen den Geschlechtern wird per Kaugummi-Verbindung zwischen zwischengeschlechtlichen Mündern auch aufs Wortwörtliche heruntergebrochen – Oralität at it's best.

Insgesamt ist „Appetit“ keine Pina-Bausch-Arie, sondern ein kompaktes, zügiges Stück Tanztheater, das anschließend noch Zeit und Lust zum Abendbrot lässt. Henning Bleyl

Im Concordia (Herderstraße/ Ecke Schwachhausener Heerstraße) tanzen: Tom Bünger, Heiko Büter, Sunju Kim, Magali Sander Fett, Gilles Welinski und Miroslaw Zydowicz. Künstlerische Mitarbeit: Brigitte Schulte-Hofkrüger. Bühnenausstattung: Katrin Plötzky, Urs Dietrich. Die nächsten Vorstellungen: 27./30. September, 2./6./13./17./19./21. Oktober. Karten tel.: (0421) 36 53 333

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