piwik no script img

Bewaffnet mit Pfeifen und Drucklufttröten

1979 drehte Peter Goedel seinen Dokumentarfilm „Talentprobe“: Er handelt, das erkennt man heute, von der Geburt der deutschen Karaoke

Das völlig euphorisierte Publikum hat sich aus den Sitzen erhoben und schreit, was das Zeug hält. Oben auf der Bühne steht ein verschüchterter junger Italiener und versucht die italienische Originalversion von „Stand by me“ zu singen. Dabei haut er so dermaßen neben den Takt und die Melodie des Liedes undzittert mit derart brüchiger Stimme den Refrain heraus, während das Orchester noch mitten in der Strophe ist, dass man denken könnte, er macht es absichtlich. Als er fertig ist, verlässt er unter einem lang anhaltenden Orkan von Pfiffen, Jubel und Kreischen ziemlich verstört die Bühne. Heutzutage würde man die Reaktion des Publikums eher als Huldigung aufnehmen. Heutzutage ist so etwas Helge Schneider oder Karaoke.

Doch im Jahre 1979, als Peter Goedel seinen Dokumentarfilm „Talentprobe“ drehte, war Deutschland noch nicht so weit. Hatte ich zumindest gedacht. „Talentprobe“ ist eine in Schwarzweiß gehaltene, unkomentierte und sehr gelungene Sozialstudie über einen Talentwettbewerb im Kölner Rheinpark, der dort zum 5.018. Mal in 27 Jahren stattfand.

Der Maurer Siegfried, der Anstreicher Karl-Heinz oder der Maschinist Manny, alle wollen sie einmal auf der Bühne stehen und haben den Traum als Schlagersänger entdeckt zu werden. Die Kamera folgt den dauergewellten oder gescheitelten Teilnehmern ins Büro des Conferenciers Udo Weiner, der die unsicheren Hobbysänger repektvoll Künstler und die Frauen in den engen Stretchhosen Damen nennt. Dann geht es zur Probe, wo jeder knapp fünf Minuten bekommt, um mit dem kleinen Begleitorchester und einem schlecht gelaunten Bandleader zu üben, wobei hier bereits einige den Text oder die Melodie vergessen haben. So werden sie noch viel blasser, als sie es schon waren, und schleichen verschüchtert aus dem Zimmer.

Dann kommt der Auftritt und wir hören Ohrwürmer wie „So bist du“, „Rosamunde“ oder „Josie, Josie“. Und erst hier merkt man, was der Regisseur eigentlich zeigen will. Den Pöbel, das Publikum. Etwa 5.000 Menschen, bewaffnet mit Pfeifen, Drucklufttröten, selbst gemachten Rasseln und Plakaten, auf denen so böse Sachen wie „Kulturbanause“ stehen, führen sich auf wie im Fußballstadion.

Je schlechter die Vorträge sind, desto lauter jubeln sie, werfen Toilettenpapier auf die Bühne, wedeln mit ihren Plakaten, singen oder skandieren irgendetwas anderes, um den Sänger zu stören. Einmal sogar: „Ma-o-am“. Sie inszenieren sich als Teil der Veranstaltung, sie sind gekommen, um sich zu amüsieren, bejubeln und verhöhnen das Unfertige und Dilettantistische und ironisieren die Veranstaltung als solche. 1979?! Das ist aus heutiger Sicht der eigentliche Clou des Films.

Peter Goedels Dokumentation handelt daher von der Geburt der deutschen Karaoke aus dem Geiste der 70er. Die Geschichte der Karaoke muss umgeschrieben werden. Ihre Wurzeln liegen nicht in Japan, sondern in Deutschland. JÖRG PETRASCH

Brotfabrik, 27. 9.–3. 10., Zeiten siehe cinema-taz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen