Tanz in der autonomen Zone

Theorie und Praxis der Performance: Mit einem europaweit einzigartigen Modell eröffnet morgen das „Tanzquartier Wien“. Maßstäbe setzt es in der Vernetzung von Choreografie und Forschung

Direkt über dem Tanzstudio ist das Theoriezentrum untergebracht

von GABRIELE WITTMANN

Wenn der österreichische Bundespräsident aus dem Fenster blickt, dann müsste er ihn eigentlich sehen: den Bau, der „Beulen im gepflegten Kunstrasen aufwirft“. Doch dieser „Maulwurfsbau“, wie ihn unlängst ein Wiener Künstler nannte, steckt gut getarnt in einem barocken Ensemble. Umgeben von harmlosen Stuckfassaden liegen die Studios des ersten österreichischen Tanzhauses, des „Tanzquartier Wien“, das morgen seine Gänge öffnet.

So einen repräsentativen Ort hatte der zeitgenössische Tanz bislang noch in keinem deutschsprachigen Land: mitten im Herzen der Stadt Wien, keine zehn Minuten vom Stephansdom entfernt. Umgeben vom Museumsquartier, einem der zehn größten Kulturareale der Welt. Von der Nachbarschaft mit Kunsthalle und Leopold Museum, mit Architekturzentrum und Museum Moderner Kunst soll das Haus künftig profitieren.

So zumindest will es die künstlerische Intendantin des Hauses, Sigrid Gareis. Sie will spartenübergreifende Projekte initiieren, hat Musiker aus der Elektro-Akustik-Szene im Visier und Videokünstler aus der Kunsthalle. Tänzer und Architekten sollen im kommenden Frühjahr zusammenarbeiten, auf der Suche nach beweglichen Konstruktionen. Nicht zuletzt, weil das dem Tanz ein neues Publikum bringt. „Man sieht es am Tanzprogramm des Centre Pompidou“, so Gareis, „das dort beheimatete Theater ist vergleichbar mit unserer Größe, und es ist immer voll. Und es hat ein gemischtes Publikum, da merkt man: Das Haus zieht als Ganzes.“

Über 300 Sitzplätze hat die Bühne im Tanzquartier Wien, acht Monate im Jahr soll sie bespielt werden. Nicht mit Ballett oder Tanztheater, sondern mit zeitgenössischen Tanzperformern wie Benoît Lachambre und Rosemary Butcher, John Jasperse und Thomas Lehmen.

Diese Namen stehen für Künstler, deren Arbeiten überwiegend auf Forschung auslegt sind. Und hier liegt der innovative Kern des neuen Hauses: Wien setzt nicht nur auf Kunst, sondern vor allem auf Recherche. Das gipfelt dann auch mal in einer „autonomen Zone“, wenn sich 13 internationale Performer zu einer Klausur zurückziehen – und das Publikum nichts von dieser Arbeit sehen wird.

Architektonisch erstrecken sich die drei Studios um zwei Winkel einer Etage. Sie stehen den Tänzern ganzjährig zur Verfügung, am Vormittag für Training, am Nachmittag für Workshops. Ein Studio ist ausschließlich für Produktionen reserviert. Über diesem Komplex verläuft eine eingezogene zweite Etage, auf der Bibliothek und Theoriezentrum untergebracht sind. Und hier liegt der inhaltliche Kern der Arbeit: die Vernetzung von Theorie und Praxis.

Denn die Tänzer und Choreografen, die künftig hier schaffen wollen, werden sich an kollektive Prozesse gewöhnen müssen. Ein Beispiel: Die Performerin Barbara Kraus, die in ihren schrillen, mit viel Wiener Schmäh und schwarzem Humor ausgestatteten Trash-Comedies Geschlechterrollen unterwandert, will „subversive Strategien im Umgang mit verinnerlichten Normvorstellungen“ untersuchen. Drei Wochen lang bekommt sie ein Studio, darf sich acht Gäste aus unterschiedlichen Disziplinen suchen. Der Theoretiker des Hauses, Peter Stamer, schlägt ihr einen Partner aus der Wissenschaft vor. In diesem Falle ist es Rebecca Schneider aus den USA, die als Professorin an der Cornell University über Schlüsselmomente in der feministischen Performancekunst geforscht hat. Die beiden Frauen setzen sich auseinander, am letzten Tag öffnet sich das Labor dem Publikum: Einem theoretischen Vortrag folgt die praktische Arbeit von Barbara Kraus.

Mit kollektiven Projekten wie diesen könnten in Wien künftig wegweisende Arbeiten im Tanzbereich entstehen. Auch für die oft vernachlässigte Frage der Produktionsdramaturgie ist gesorgt: Der 26-jährige, aus dem Umfeld des belgischen Klapstuk-Festivals kommende Tanztheoretiker Jeroen Peeters ist als Hausdramaturg angestellt. Er sieht seine Rolle als das „personifizierte schlechte Gewissen“ der Produktion.

Es ist also an alles gedacht worden am Tanzquartier Wien. Und auch finanziell ist das Haus mit einem Jahresetat von über fünf Millionen Mark gut ausgestattet. Doch wird das Haus auch von der Wiener Szene akzeptiert? Die Pioniere der Freien Tanzszene haben zehn Jahre lang für dieses Haus gekämpft, nun wurde ihnen eine Intendantin aus dem Ausland vorgesetzt. „Die Generation der 35- bis 40-Jährigen ist in der Programmgestaltung bis Weihnachten nicht vorgesehen“, moniert etwa Nikolaus Selimov, „das ist eine Signalwirkung, die uns nicht unbedingt hoffnungsfroh stimmt.“ Er hätte gern das 20-jährige Jubiläum seines Tanztheaters Homunculus in dem neuen Tanzhaus gefeiert. Schließlich haben die Pioniere nicht zuletzt für eine Bühne gekämpft, auf der auch größere Ensembles auftreten können. Aber nun müsse man halt „wieder losziehen und alternative Orte suchen“. Wie schon seit zehn Jahren. „Wir haben einen langen Atem“, sagt er gelassen.

Und wie reagiert Sigrid Gareis auf das Unbehagen aus der Szene? „Im Moment rebelliert eine kleine Gruppe der Älteren“, erklärt sie, „und das kann ich auch verstehen, weil sie die Hauptkämpfer waren. Aber bei Künstlern, die über zwanzig Jahre gearbeitet haben, kann man sich die Entscheidung nicht so leicht machen.“ Sie brauche mehr Zeit, um ein Verhältnis aufzubauen, um zu einem Urteil zu kommen. Die Wiener Szene aber sei sehr in sich geschlossen, Gastspiele im Ausland eine Seltenheit. Und so kommt sie zu dem Schluss: „Man muss hier öffnen.“

Bislang verfügte die studierte Anthropologin immer über genügend diplomatisches Geschick, um dem Tanz einen Weg zu bahnen. Als Referentin für das Siemens-Kulturprogramm stampfte sie in den vergangenen zehn Jahren eine Fülle von Projekten aus dem Boden, brachte Festivals mit auf den Weg, vernetzte die belgische Tanzszene mit der deutschen und entwickelte den Austausch mit Moskau. Ihrer ästhetischen Richtung ist sie dabei immer treu geblieben. Daran zumindest können sich die Wiener künftig halten: Sigrid Gareis steht für den Balanceakt zwischen kommerziellem Kunstmarkt und subversiver Forschung. Und das ganz offensiv.