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Stadtpisse macht frei

Heute vor vierzig Jahren kamen die Türken – mit Hilfe eines Urinverkäufers

Sie erklärten den potenziellen Arbeitern, dass deren Bauern-pipi fürchterlich verseucht sei

„Ich gehörte zu ihnen“, hebt der Mann mit dem dichten weißen Schnurrbart an zu erzählen. „Wir schnappten uns die Leute aus Ostanatolien schon am Busbahnhof.“ Lachfalten bahnen sich ihren Weg durch das zerfurchte Gesicht Alis, der hinter einem großen Schreibtisch in Istanbul residiert. „Da war ich so 20; was hatten wir damals für einen Spaß!“

„Damals“, das war nach dem 30. Oktober 1961, jenem Tag vor 40 Jahren, an dem Deutschland und die Türkei das „Abkommen zur Anwerbung türkischer Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt“ unterzeichneten. Ähnliche Verträge mit zum Beispiel Spanien und Griechenland waren weniger erfolgreich: Die meisten Menschen, die in den Sechzigerjahren nach Westdeutschland zogen, stammten aus der Türkei, so dass die Italiener als die bis dato größte Ausländergruppe in Deutschland schnell abgelöst waren. Bereits 1967 wohnten 170.000 Türken im Wirtschaftswunderland Almanya; heute sind es über zwei Millionen.

Bevor die Menschen, die fast alle Bauern aus Ostanatolien waren, Anfang der Sechzigerjahre nach Deutschland durften, mussten sie zunächst – wie Ali es nennt – „den Kunta Kinte machen“. Heißt: An einer zentralen Anwerbestelle in Istanbul wurden ihre Zähne nachgesehen, ihre Hände auf Flinkheit geprüft und ihr Urin untersucht. So hatten seinerzeit Istanbuls Schnellzahnärzte Hochkonjunktur ebenso wie „Gesundheitspulververkäufer“. Ali und seine „Geschäftsfreunde“ waren auf Urin spezialisiert: Sie erklärten den potenziellen Arbeitern, dass deren Bauernpipi fürchterlich verseucht sei; sie sollten lieber den Urin eines Istanbulers zum Test abliefern. Rein zufällig könnten sie ihnen zu einem günstigen Preis . . . – „Stadtpisse macht frei!“

Der „Berufsstand“ des Urinverkäufers erfuhr sogar literarische Ehren. In ihrem Roman „Das Leben ist eine Karawanserei“ schreibt Emine Sevgi Özdamar: „Die Urinverkäufer gossen den Urin in eine Plastikpistole und gaben sie den Bauern, damit die Bauern den Urin mit den Plastikspritzpistolen leichter in die Vermittlungsstelle reinschmuggeln konnten. Wenn sie bei dem richtigen Arzt in der Vermittlungsstelle hinter einem Vorhang Urin lassen mussten, spritzten sie aus der Pistole, die sie in ihrer Unterhose hatten, den Urin heimlich in das ärztliche Uringlas und gaben es dem Arzt.“

Am 23. November 1973, mit dem Anwerbestopp der Bundesrepublik Deutschland, war es vorbei mit den guten Urin-Geschäften. Doch trotz der schweren Verluste auf dem „Sidik-Market“ geht es Ali nicht schlecht – das lässt die teure Büroeinrichtung, die ihn umgibt, erahnen. Er habe sein Unternehmen, bestätigt Ali solche Vermutungen, rechtzeitig „diversifiziert“. Seit dem Ausbruch des Inderwahns in Deutschland sei er beispielsweise der Monopolist für in Sanskrit abgefasste Zeugnisse über ein Informatikstudium in Neu-Delhi. Und gleich nach dem 11. September habe er begonnen, kleine Plastik-World-Trade-Center nach Afghanistan zu liefern. Produzieren lasse er die in China, obwohl Ali der Ware – nach eigenem Bekunden – lieber den Stempel „Made in Germany“ aufdrückt.

Die Türken, die heute in Deutschland leben, seien jedoch viel zu „pc“. Selbst die „Naivis“, die ihm einst den Urin „förmlich aus den Händen rissen“, könnten integrierter kaum sein. Die Türken integriert in Deutschland? Zweifel daran wischt Ali fort: „Die Türken waschen samstags ihre Autos; sie lieben Hunde, besonders Pitbulls; sie kommen in den deutschen Kriminalitätsstatistiken gut davon; und sie sind untertänig und fleißig. Dass sich die Deutschen umgekehrt auch integriert haben, sieht man daran, dass sie, die sie früher noch die Türken als ‚schnurrbärtige Knoblauchfresser‘ hänselten, heute mit Knoblauch gewürzten Döner lieben und selbst wieder Schnurrbärte tragen.“

Und dann führt Ali einen „unabweisbaren Beweis“ für die deutsch-türkische Integration an: Obwohl es 40 Jahre her ist, dass das Anwerbeabkommen unterzeichnet wurde, verkaufe er gelegentlich noch heute Urin. „Wenn es hoch kommt“ – und er lacht an dieser Stelle doppeldeutig – „sind es zwar nur zwei, drei Liter monatlich, doch es ist eine Deutsche, die meinen kostbaren Saft will!“ Eine bekannte Autorin, die vor einigen Jahren einen Bestseller über Eigenurin geschrieben habe, brauche manchmal eine Ladung „Direktexport“. Pipigelb – die Farbe der deutsch-türkischen Freundschaft?

BJÖRN BLASCHKE

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