Was uns auf Trab bringt

Notizen eines literaturlesenden Amerikareisenden – erste Station: Los Angeles. Vom Ausrichten des Daseins auf die Mahlzeiten beim Flug bis zur Frage, wie viele Katastrophen ein Schriftsteller braucht

von TOBIAS HÜLSWITT

Die Lufthansa spart, wo sie kann. Seit dem 11. September, erklärt uns eine Stewardess, entfällt einer der beiden täglichen Flüge von Frankfurt nach Los Angeles, die eben frisch eingerichtete Linie München–LA wurde ganz gestrichen. Ebenso, und da wird es für uns konkret, der früher zwischen den beiden etwa acht Stunden auseinander liegenden Hauptmahlzeiten gereichte Snack. Eine besondere Härte, weiß doch jeder, dass auf einem Flug die Bedeutung des Essens als strukturelles Element ins Unermessliche wächst. Fliegen bedeutet das Ausrichten des gesamten Daseins auf die Bordmahlzeiten. Wie zur Entschädigung läuft die Klimaanlage auf vollen Touren, in den Gängen zwischen den Sitzreihen weht ein regelrechter Wind, und wie Beuys, als er in Amerika den Kojoten trifft, in seinen Filz, so sitzen Maike, David und ich in die dünnen Lufthansadecken eingewickelt und müssen, wie fast alle Passagiere, dauernd niesen und Nase putzen.

„Das ist ja wie früher in Russland“, wird eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts von Los Angeles unsere Schilderung des snacklosen Fluges später halb im Scherz kommentieren. Um die müden Augen zu schonen oder aus einem Hommagereflex bei der ersten Begegnung mit der Mutterkultur setze ich in der Gangway die Sonnenbrille auf, nehme sie aber sofort wieder ab, damit ich mir die amerikanischen Menschen besser anschauen kann. Sie sehen asiatisch und lateinamerikanisch aus.

Wir betreten eine gigantische Halle. Unter fünf riesigen star sprangled banners, die von der Decke hängen, passieren wir etliche Kontrollen und eine Extrabefragung, da die Beamten nur ungern glauben, dass wir in den USA Lesungen halten, aber erst in Deutschland dafür bezahlt werden sollen. David, der überall angibt, in Sachen holidays unterwegs zu sein, kommt am besten durch. Nachdem wir alle Kontrollen passiert haben, begrüßt uns von einer Wand herab ein gerahmter George W. Bush. Ich setze die Sonnenbrille wieder auf. Draußen scheint die Sonne auf palmengesäumte, breite Straßen. Durch das Flughafenfoyer schlendern, die Maschinengewehre um die Schultern gehängt, zwei Soldaten.

Venice Beach Promenade. Pelikane gleiten nahe dem Strand über das Wasser, die Wellen rollen sonntagsgemäß entspannt auf den Sand, eine Brise geht durch die Palmen. Turbangekrönte, E-Gitarre spielende Hippies auf Rollerblades, Bekleidungsladeninhaber, die in ihren Schaufenstern Ein-Mann-Modeschauen aufführen, Damen, die am Rand der Promenade chinesische, schwedische und afrikanische Massagen anbieten, Wahrsagerinnen und Tattooshops in Zelten und eine Menge Touristen in den Cafés.

Der Kellner nickt respektvoll, als wir auf seine Frage sagen, woher wir kommen, und wir erfahren im Gegenzug, dass er aus Israel stammt, und sofort scheint die Situation hochkomplex aufgeladen. Der irritierende Respekt, mit dem ein junger Israeli das Wort Deutschland quittiert, die gegenwärtige Situation Israels und seine Rolle im Konflikt mit Teilen der islamischen Welt – Assoziationen wie diese stellten sich ein, wollte man eine harmlose Cafészene wie auch immer interpretieren. Und plötzlich stellt sich beim Blick auf die Promenade das Gefühl ein, dies alles könnte auch Tel Aviv sein, und als du dir gerade die Haare zurückstreichst und jemandem in kurzen Hosen nachschaust, zerreißt eine Detonation wenige Häuser weiter die Luft.

Unsere erste Lesung findet in der UCLA, University of California Los Angeles, statt. Neben den zu den Veranstaltern zählenden Gästen haben sich acht Zuhörer eingefunden, die meisten Studenten der Germanistik. Das Wort ergreift in der anschließenden Diskussion ein Deutscher mittleren Alters mit der Frage: „Ist denn wirklich so wenig passiert in . . .“ – und da er das Wort „Leben“ im letzten Moment doch nicht über die Lippen bringt, sagt er: „. . . in Ihrer Literatur?“ Wieder zeigt sich, dass der literaturkritisch verkappte ewige Vorwurf älterer Generationen an die junge deutschsprachige Literatur ein persönlicher ist: Wie können wir es eigentlich wagen, zu schreiben, ohne einen Krieg oder eine Nachkriegszeit oder zumindest eine Studentenrevolte erlebt oder wenigstens eine schwere Kindheit im Ostblock gehabt zu haben wie die wunderbare Terezia Mora zum Beispiel? Katastrophen zur Voraussetzung für Literatur zu erklären, könnte man antworten, ist blanker Zynismus. Denn konsequent zu Ende gedacht, müssten all diejenigen, die so denken, glücklich sein, dass die Twin Towers zerstört worden sind, denn Ereignisse wie dieses bringen die Literaten auf Trab, lassen sie wesentlich werden, verhelfen ihnen zu einer Botschaft. Gott bewahre!

Spät verlassen wir die UCLA und fahren lange durch die Nacht zurück zum Hotel, den Sunset Boulevard entlang, wo aus einer Einfahrt plötzlich Sylvester Stallone auf den Bürgersteig tritt. Er ist wirklich sehr klein.