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Unbedingtes Distanzgebot

■ NDR-Sinfoniekonzert mit Schostakowitsch und Rachmaninov

Ein bisschen riskant ist es immer, in hiesigen und heutigen Breiten Rachmaninov aufzuführen: Unglaublich schnell sinkt westdeutsches Konzertpublikum hinein in sentimentale Russlandklischees. Und ein bisschen fürchtet wohl auch jeder Dirigent, diesem Weltschmerz zu erliegen. Solche Ängs-te müssen auch Mark Wigglesworth vor dem jüngsten NDR-Sinfoniekonzert in der Musikhalle umgetrieben haben, weswegen er folgende Flucht ergriff: das – chronologisch betrachtet – zweite Stück des Abends, Dmitrij Schostakowitsch' Cellokonzert Nr. 1 Es-Dur (op. 107), gleich an den Anfang zu stellen. Ein intelligenter Trick, um – vom oft als kopflastig beschimpften Schostakowitsch kommend – später bei Sergej Rachmaninov gar nicht erst in ein romantisierendes Dirigat hineinzugleiten.

Und, es steht außer Zweifel, die Maßnahme hat gegriffen. Zudem hat sich mit Boris Pergamenschikov ein erstklassiger, ebenfalls unsentimentaler Cellist präsentiert, der souverän zwischen Einfühlung und Distanz balancierte: Eine dezente Abstimmungsphase zwischen Solist und Orchester kennzeichnete den Beginn von Schostakowitsch' Cellokonzert, bis man zum Eigentlichen vordrang: zum Motiv-Wettlauf, der wirkte, als machten Individuen (Cello/Horn) und Masse (das Orchester) einander Lautstärke und Argumente streitig. Und fast schien es, als wollten alle Beteiligten, dringend eine (revolutionäre?) Botschaft verkünden. Erklärtermaßen dem Sowjetregime gehorsam war Schostakowitsch, einem stetigen Wechsel von Anerkennung und Verfemung ausgesetzt und immer bemüht, der Forderung nach verständlicherem Stil nachzukommen.

Auch die vom Regisseur Wsewolod Meyerhold in den Zwanzigern ersonnene Idee der Biomechanik – die Lehre von der sparsamen, streng zweckorientierten Körperbewegung – muss Schostakowitsch gekannt haben: Klaren Gesetzen gehorcht das 1. Cellokonzert, als solle aus Timbre und Dynamik eine konkrete geometrische Form geschaffen werden, mit dem Orchester als akkuratem Uhrwerk. Und auch in tänzerischen Passagen unterwarf sich Pergamenschikov dem Distanzgebot; Lyrisches wurde allenfalls zitiert. Gläsern schoben sich unterdessen begleitende Streicher- und Bläsermotive ineinander. Und sogar Debussy-Anklänge wurden sofort durch Sekund- und Septreibungen zurückgenommen, als führe auch Impressionistisches unweigerlich zum unkontrollierbaren Gefühlsrausch.

Einzige Klammer blieb das zügige Tempo, mit dem sich Wigglesworth auch der 2. Rachmaninov-Sinfonie in e-Moll (op. 27) näherte: Kühl spielte das Orchester den elegischen ersten Satz und suchte romantisierende Passagen durch gedämpfes Vibrato zu überwinden. Fluchten vor der Melancholie wagte Wigglesworth durch einzelne kakophonische Tupfer: Extrem laut intonierten die Blechbläser etwa im 1. Satz. Vielleicht wollte der Dirigent hier die – von Rachmaninov selbst als zentral betrachtete – Emotionalität ein bisschen stören. Suggestiv auf außerhalb der Musik Liegendes zu verweisen, kam für den Dirigenten dabei ohnehin nicht in Frage: Wigglesworth zeichnete keine Bilder „endloser Weite“, sondern blieb beim reinen Klang.

Als Kontrapunkt kam allein das Scherzo daher, in dem die Streicher scharfe Furchen in Granit frästen. Die Methode: eine Kreisbewegung, die die Wiederholung – zeitlich verdichtet – kultivierte und so süffisant die Weitschweifigkeit der umgebenden Sätze in Frage stellte.

Petra Schellen

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