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Hüpfen auf Gummiparagraf

Darf ein kriegführendes Land wie die USA Olympische Winterspiele 2002 in Salt Lake City ausrichten? Das IOC lenkt von dieser Frage ab. Wie die Geschichte der Olympier zeigt, nicht zum ersten Mal

von ERIK EGGERS

Cyrus Vance wählte deutliche Worte. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan konnte sich der US-Außenminister eine Teilnahme der besten Sportler seines Landes 1980 in Moskau beim besten Willen nicht vorstellen: „Die Olympischen Spiele in einer Nation abzuhalten, die gegen eine andere Krieg führt, hieße, den olympischen Mantel für die Handlungen dieser Nationen auszuleihen“, so Vance. Kurze Zeit später erklärte sein Vorgesetzter Jimmy Carter tatsächlich den Boykott.

Jetzt, da 21 Jahre vergangen sind, ist also wieder Afghanistan Brennpunkt – und in drei Monaten ist Salt Lake City Gastgeber der Winterspiele. Und doch ist eine Verschiebung oder gar eine Absage des Weltsportfestes noch nicht zum Gegenstand einer größeren öffentlichen Diskussion geworden. Was es gibt, sind Appelle des im Juli neugewählten Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Jacques Rogge, wenigstens während der Spiele den olympischen Frieden zu wahren, sollte der Krieg zu dieser Zeit noch nicht beendet sein. Colin Powell, aktueller Nachfolger von Cyrus Vance, hat schon jetzt seine Antwort gegeben: Kommt nicht in Frage!

Die meisten olympischen Funktionäre lehnen eine Debatte über eine Absage oder Verschiebung kategorisch ab. Rogge spricht viel lieber über die Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen; wie Mitt Romney, Chef des Organisationskomitees in Utah, ist er der Meinung, dass „die Spiele mehr als zuvor als Forum für Frieden und Harmonie in der Welt dienen“ sollten. Gerhard Heiberg, norwegisches IOC-Mitglied, sprach sich kürzlich jedoch gegen Olympia aus: „Ein Land, das sich im Krieg befindet, kann nicht die Olympischen Spiele ausrichten“, erklärte er, betonte aber, dass es „noch zu früh“ sei, eine endgültige Position einzunehmen. Und auch das deutsche IOC-Mitglied Walther Tröger, der im Grundsatz für eine Ausrichtung plädiert, räumte ein, dass nach der Olympischen Charta ein kriegführendes Land Olympia nicht ausrichten darf. „Wir werden uns über die Definition dieses Paragrafen unterhalten müssen“, so Tröger gegenüber der FAZ. Dieser vielzitierte Paragraf hat allerdings einen großen Haken: Es gibt ihn so nicht. Das Regelwerk des IOC, die Olympische Charta, spricht in seiner Präambel zwar von „Förderung des Friedens“ oder „Schaffung einer friedliebenden Gesellschaft“ – doch von einem ausdrücklichen Verbot, wie es Tröger vermutet, steht dort nichts. Und dennoch existiert so etwas wie eine historisch abgeleitete Konvention. Eine Abhaltung der Olympischen Spiele 1916 in Berlin etwa war mit Beginn des Ersten Weltkrieges völlig undenkbar geworden. Vor allem deutsche Funktionäre hatten schon vorher im olympischen Gedanken „ein Symbol des Weltkrieges“ gesehen. „Fort mit dem internationalen Olympia“, schrieen die deutschnationalen Turner, und selbst Olympiaorganisator Carl Diem, der damals zu den Verfechtern des internationalen Sportgedanken zählte, fand es „schnurzegal, ob und wann die Spiele stattfinden“. Viel wichtiger war ihm nun, „ob die Patrouillen, die jetzt weggehen, uns das gewünschte Ergebnis bringen.“ Kurz: Die vom französischen IOC-Gründer Pierre de Coubertin getragene Friedensidee war völlig auf der Strecke geblieben. Ein offizielles Schreiben, in dem das IOC Berlin die Spiele entzogen hätte, existiert nicht.

Gut zwanzig Jahre später die Parallele: Japan hatte während der 1936er Spiele in Berlin – die sich ja auch als Fest friedliebender Nationen gerierten – die Spiele für 1940 (in Tokio) bekommen. Nachdem es 1937 China überfallen hatte, verlangte unter anderem das chinesische IOC-Mitglied Wang eine Verlegung in ein anderes Land. Aus der überlieferten Reaktion des IOC sprach Arroganz: „Da der Wortlaut der Olympischen Charta keine Bestimmung für eine solche Entscheidung vorsieht“, hieß es in einem Protokoll anno 1938, „geht man auf Vorschlag des Präsidenten zur Tagesordnung über.“ Schließlich gab Tokio die Spiele zurück, Helsinki sprang ein.

Erst als sich die Finnen seit 1939 ebenfalls im Krieg befanden, formulierte das IOC in Gestalt seines Präsidenten Baillet-Latour erstmals grundsätzlich: „Sollen Olympische Spiele in Kriegszeiten überhaupt stattfinden.“ Die Mitglieder der Exekutive fanden: ja. Darunter auch Karl Ritter von Halt, der ansonsten eine Verlegung der für den Februar 1940 geplanten Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen zu befürchten hatte. Selbst im Falle dieses Austragungsortes reagierte die IOC-Spitze nicht, obwohl sie im Land des nationalsozialistischen Aggressors stattfinden sollte. Hitler selbst war es, der sich entschloss, auf die Winterspiele zu verzichten.

Trotz aller Erfahrungen, so schrieb Andreas Höfer in seiner 1994 erschienenen Monographie „Der Olympische Friede“, hat „die Olympische Bewegung ihr Verhältnis zum Krieg bisher nicht definiert und in den zentralen Fragen notwendige Grundsatzentscheidungen gescheut.“ Wird der Krieg in Afghanistan etwas an der Passivität ändern? Angesichts der Befürchtungen der amerikanischen Organisatoren, wegen Schadensersatzforderungen von einer riesigen Prozesslawine überrollt zu werden, mag man daran kaum glauben.

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