: Die Konsumentendemokratie
Da sich die ideologischen Gewissheiten auflösen und vertraute gesellschaftliche Strukturen schwinden, setzt Richard Herzinger auf unverzichtbare Normen: Menschen- sowie Bürgerrechte und Konsum. Nur sie garantierten die Integration aller Gruppen
von EBERHARD SEIDEL
Der Berliner Essayist Richard Herzinger ist ein leidenschaftlicher Verfechter der offenen liberalen Demokratie, individueller Freiheiten und der universellen Menschenrechte. Mit seltener Entschiedenheit wendet er sich seit Jahren gegen zivilisationskritische Gesundbeter und kommunitaristischer Krisenschwadroneure. Weder teilt er deren Unbehagen an den Folgen kapitalistischer Entwicklung, noch hält er die Forderung nach Restauration eines Wertekanons, der sich aus Tugenden wie Mitmenschlichkeit, Solidarität, Teilen und Verzichten zusammensetzt, für eine besonders kluge Idee. Das alles sei ungeeignet, auf die Herausforderungen pluralistischer offener Gesellschaften zu reagieren, lautet sein Befund. Bereits 1997 veröffentlichte Herzinger eine verfrühte Streitschrift gegen die aktuelle Globalisierungskritik: „Die Tyrannei des Gemeinsinns“. Statt auf Zivilisationkritik setzt er auf die zivilisatorische Kraft der Konsumentenkultur.
In seinem neuen Essay „Republik ohne Mitte“ verficht Herzinger deshalb das Lob auf die vielerorts schlecht beleumundete „Amerikanisierung“ der Welt. Diese biete eine Perspektive für moderne pluralistische Gesellschaften, die ohne substanzielle Mitte auskommen müssen, also ohne eindeutig definierbaren ethischen, moralischen, kulturellen oder religiösen Identitätskern. Denn so viel scheint festzustehen: Auch die Deutschen machten nun die Erfahrung, dass der Versuch scheitert, gesellschaftliche Regeln aus vorgegebenen Traditionen, überlieferten Wertetabellen und Konventionen abzuleiten – bei der Einwanderung und gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften ebenso wie bei der Genforschung.
Wenn ideologische Gewissheiten sich auflösen und vertraute gesellschaftliche Strukturen wie die Famile verschwinden, dann müssten Herzinger zufolge unverzichtbare Normen an ihre Stelle treten – die Menschen- und die Bürgerrechte. Denn die schreiben nicht vor, was zu tun, sondern was zu unterlassen ist: anderen die eigene politische, religiöse oder lebensweltlich-kulturellen Überzeugungen aufzuzwingen.
Auch an dieser Stelle ist für Herzinger das amerikanische Modell am überzeugendsten. So hätten die USA (West-)Europa nicht nur vom Nationalsozialismus befreit und gegen den Sowjettotalitarismus abgeschirmt, sondern auch pazifiziert, indem sie ihm ein neues, übergreifendes Daseinsideal propagierte: die egalitäre Konsumentendemokratie. Das Konsumprinzip ist für Herzinger das Integrationskonzept schlechthin: „Es fokussiert alle Fortschrittsanstrengungen auf das private Glück jedes Einzelnen.“ Das Ziel Konsum halte zudem Rassismus und religiös-kulturellen Hass in Zaum.
Gerade für multikulturelle Gesellschaften und moderne Einwanderungsgesellschaften sei eine „amerikanisierte“ Konsumentenkultur deutschen Integrationskonzepten überlegen, die mit Begriffen wie Leitkultur operierten. „Amerikanisierung“ beschreibe weder die schlichte Nivellierung kultureller Unterschiede noch eine ästhetische und ideologische Homogenität amerikanischer Massenkultur. Sondern: Fremde Kulturen stoßen aufeinander, gehen untereinander vielfältige – auch konfliktreiche – Verbindungen ein und formen neuartige kulturelle Konzepte, bei denen freilich ihre ursprüngliche Verwurzelung verloren geht. Das macht Ungewissheit zum Dauerzustand, weckt Ängste und Ressentiments. Herzinger weiß um diese Brisanz des amerikanischen Modells.
Seine Argumentation ist schlüssig, vernünftig und stößt doch auf Grenzen. Ein von allen Illusionen befreites Denken mag ja tatsächlich eher in der Lage sein, tragfähige Übereinstimmungen für zunehmend individualisierte Gesellschaften hervorzubringen, das stillt aber keineswegs die vielerorts vorhandene Sehnsucht nach ganzheitlichen Verheißungen.
Herzinger ist sich bewusst, dass im Untergrund unserer Gesellschaft zahllose diffuse Welterlösungsideologien blühen, die sich scheinbar von der Logik unserer säkularisierten Öffentlichkeit ablösen. Gerade die Inflationierung der Angebote auf die letzten Sinnfragen würde es unwahrscheinlich machen, dass aus den pluralistischen Massen- und Mediengesellschaften noch einmal eine totalitäre Kraft hervorgehen könnte. So weit, so beruhigend.
Zu guter Letzt wird der Rationalist Herzinger dann doch noch zum Moralisten, wenn er dazu auffordert, bei der Masse der Sinnangebote zwischen harmloser Exzentrik, unangenehmer Spinnerei und ernster Bedrohung zu unterscheiden. Trotz behaupteter Überlegenheit kann die Konsumentenkultur offensichtlich nicht alles richten, und so bleiben die Fundamentalismen eine ultimative Gefahr. Im Inneren liberaler Demokratien sei der gewalttätige neo-nationalsozialistische Rechtsextremismus die radikalste Form einer hermetischen ideologischen Gegenwelt, die am offiziellen Diskurs nicht mehr partizipieren und mit dem Gewaltakt schlicht sein Dasein voraussetzungslos behaupten will.
Einen tieferen Sinn, möglicherweise sogar einen dialektischen Bezug zum Konsumentenmodell will Herzinger in dieser Form rechtsextremistischer Gewaltpraxis nicht sehen. Stattdessen ordnet er sie als eine Form weltweiter posttotalitärer, fundamentalistischer oder ethnisch-nationalistischer Terrorismen ein, wie sie die Säuberungsnationalisten Serbiens oder Ruandas oder die afghanischen Taliban verkörpern. Wenn Herzinger gleichzeitig dazu auffordert, diese Extremismen und Terrorismen nicht in die Sphäre sozialökonomischer oder sozialpsychologischer Gesellschaftsanalyse zurückzuübersetzen, dann ist das nicht nur reichlich undialektisch, sondern definiert den Teil der Menschheit, den das Konsumentenmodell nicht integrieren kann, als den bösen Rest. Folgte man an dieser Stelle Herzinger, würde das zwar unbequeme Debatten um die offensichtlichen Mängel und Grenzen des Konsumentenmodells beenden. Zu Ende gedacht hieße das aber gleichzeitig: Wo das Böse sein Haupt erhebt, da schlage es nieder. Etwas unbefriedigend ist solch eine Perspektive schon.
Richard Herzinger: „Republik ohne Mitte. Ein politischer Essay“, 192 Seiten, Siedler Verlag, Berlin 2001, 18,50 €
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