: Für den Westen sterben
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
„Wer nicht bereit ist, für seine Überzeugungen zu sterben, der hat auch keine.“ Arnulf Baring über die halbpazifistische Hauptstadtkoalition
Die Freiheit der Welt wird, das hat gute Tradition, immer auch in Berlin verteidigt. Aber damit der Krieg gegen Bin Laden und andere terroristische Psychosekten gelingt, bedarf es – so der Spiegel in seiner Titelgeschichte zum Ende des schlimmen Jahres – einer „tieferen, existentiellen Rückbesinnung“ auf Traditionen, für die der Westen „im Notfall auch energisch zu kämpfen bereit ist“. Es folgt ein Panorama westlicher Werte, von Sokrates, dem „ersten großen Individualisten und Ironiker“ Europas, bis Andy Warhol, dem Verdoppler ihrer Resultate. Die Werte-Inventur ergibt: Privatisierung der Religion, Menschenrechte der Individuen, undogmatische Wissenschaft, Toleranz, Verzicht auf Feindbilder (war da nicht noch kürzlich was?). Und vor allem: die westliche Fähigkeit zur Kritik und Selbstkritik, die diese Fortschrittsspirale in Gang gesetzt hat. An deren Ende steht vor allem eines: „der Eigenwert der freien, selbstkritischen Person“ und „die freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Die materialistische Idee „linker Sozialreformer“, die „allen Ernstes“ glaubten, „zur Verwirklichung eines humanistischen Elysiums genüge es, alle Güter gerecht zu verteilen“, ist überwunden zugunsten des blassen „Gedanke(ns) permanenter Reformfähigeit“. Na Gott sei Dank!
Die französische Aufklärung kommt in diesem Schnellkurs mit einer ziemlich ignoranten Islamkritik Voltaires und ohne Rousseau aus, und damit sind wir schnell über die Schwelle der Französischen Revolution gehüpft, deren vernünftlerischer Gleichheitswahn das Zusammenleben zersetzt habe: zu viel Aufklärung „entartet … zum Terror von Demagogentum, Zwang, Terror, Guillotinen, Chaos und zuletzt nackter Herrschaft“.
Aber schließlich wurde alles gut, auch wenn sich „der Begriff der Individualität … nur langsam durch(setzte)“ und „der Pragmatismus der Politik“ sich nur allmählich „aus der Freiheit des Denkens“ entwickelte. Hegel ist eben das schönste Gleitmittel fürs Feuilleton, wenn weitläufige materialistische Erörterungen zu vermeiden sind wie etwa die, dass kein Menschenrecht ohne Klassenkampf auf die Welt kam, die Friedlichkeit der Massen eine Funktion der Erfindung des Schnellfeuergewehrs ist oder statistische Feinheiten wie die, dass Indivualisierung, Wissenschaft und „tolerante, weltoffene skeptische, Pop-bunte Lebensweise (von Walt Disney bis Warhol)“ – so das Werte-Resümmee – ein Luxus sind, der selbst in der G-8-Welt allenfalls bis in die obere Mitte gesickert ist.
Vor allem eines kommt nicht vor in diesem ökonomiefreien Wertekanon: dass neben den Menschenrechten eine zweite Errungenschaft die westliche Moderne begründete – die Volkssouveränität. Ohne beide ist die Demokratie halbiert. Moderne Demokratie ist mehr als Garantie der individuellen Freiheitsrechte gegen staatliche Despotie; es ist die Kontrolle der Macht der wenigen durch die vielen und damit die Ausweitung von Freiheit und Gleichheit auf das Werktagsleben der Menschen: Arbeitsrecht, Sozialstaat, Sozialbindung des Eigentums. Und noch viel mehr, vgl. die rot-grünen Parteidokumente.
Aber für die individualitätsbezauberten Wertesucher im Spiegel gibt es gute und böse Selbstkritik. Denn diese Kardinalstugend gegen die Selbstgewissheit religiöser Despoten kann zu „frömmelnder Selbstauspeitschung“, zum „Masochismus“ zweifelsüchtiger Intellektueller mutieren. Vor allem der deutschen, die, von „pathologisch schlechtem Gewissen“ über ihren Reichtum getrieben, vor einem „Totalitarismus neuer Art“ als Folge der neoliberalen Globalisierung warnen. Menschen wie Johano Strasser oder Klaus Staeck (die einzigen namentlich aufgeführten Masochisten) verwandeln das „Merkmal kultureller Überlegenheit – die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich radikal in Frage zu stellen“, in ein Zeichen von „Depression und Selbstverleugnung“ und leisten so „treffliche Vorarbeit“ zu Wertevergessenheit oder Schlimmerem.
Spätestens hier, wo die Kritik an WTO, Weltbank, OECD und IWF als politische Perversion diagnostiziert wird, verhüllt die Rede von den „westlichen Werten“, dass es „den Westen“ nicht gibt. Dass Richard Rortys kürzliches Podiums-Bonmot von der „kulturellen Verwestlichung der Welt“ als einzigem Weg zum Weltfrieden präzisiert werden muss. Denn auch dieser linksliberale Philosoph war bass erstaunt, als ein Diskutant entgegnete: Europa und die USA, das seien doch wohl zwei Kulturen.
Vielleicht ist es an der Zeit, über den „Kampf“ dieser Kulturen nachzudenken. Über die Notwendigkeit eines europäischen Fundamentalismus: die Verteidigung des Sozialstaats etwa – „so kostbar wie Kant und Beethoven“ (Bourdieu) – gegen die Privatisierungsrunden der WTO oder der Kunstfreiheit gegen die Macht Hollywoods, der Meinungsfreiheit gegen die internationalen Medienmonopole, des Menschenrechts auf Gesundheit gegen die Pharma-Patente.
Der Kampf sollte bald aufgenommen werden. Denn die USA agieren nicht erst seit dem 11. 9. imperial: Sie steigen aus Rüstungskontrollabkommen, Biowaffenkonventionen und dem Kioto-Vertrag aus, sie lehnen den internationalen Strafgerichtshof ab, sabotieren die UNO und die ohnehin mühsamen OECD-Bemühungen gegen Geldwäsche. Ihr Finanzministerium kontrolliert den IWF, und der US-Präsident hat das Recht, überall Terroristen festnehmen und sie der nichtöffentlichen Militärgerichtsbarkeit der USA zuführen zu lassen, seine Militärs – nicht die Nato – installieren neue Basen in Zentralasien, während seine Rechtsintellektuellen propagieren, „failed states“ zwangszuverwalten. Der „Krieg gegen den Terrorismus kann hundert Jahre dauern“, hieß es vor drei Monaten, und letzte Woche das Echo: „Our nation will uphold the doctrine of either you’re with us or against us.“
Die UN-Menschenrechtscharta ist der vollständige, universalistische Kanon der westlichen Werte. Der Globalismus der USA und die von ihnen angetriebene Globalisierung der Finanzmärkte, die, so der Enquetebericht des Bundestages diplomatisch, von der „gesamten westlichen Welt eher zögerlich, aber weitgehend widerspruchslos mitgetragen“ wurde, sind die größte Herausforderung für die Universalisierung dieser Werte.
Die westlichen Demokratien haben die Basis ihrer Souveränität, die Steuerhoheit, verloren; wird nun die Nato zur Nationalgarde der USA? Deutsche ABC-Füchse auf der arabischen Halbinsel; deutsche Schnellboote vor Somalia? Zur Verteidigung „unserer Art zu leben“ (Schröder)? Ob es für diesen Verteidigungsfall freilich reicht, wenn Lehrer den Spiegel lesen und „für die Tradition der primär individuellen Weltdeutung (werben)“, lässt sich bezweifeln. Es dürfte kaum die „Bereitschaft, für seine Überzeugungen zu sterben“, wecken.
Hohe Zeit also, für den Eurofundamentalismus zu kämpfen. Notfalls auch zu sterben. Also doch „mourir pour des idées“? Ja natürlich, aber bitte europäisch. In den Worten des poetischen Republikaners Brassens: „Oui. Mais de manière lente.“
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