: Kommunales Glück
Auch Singles brauchen Familienanschluss: Mit Lone Scherfigs „Italienisch für Anfänger“ ist das Dogma-Kino beim Beziehungsfilm angekommen
von MANFRED HERMES
Der Schwur von „Dogma 95“ hat zwar nicht seine Verbindlichkeit, aber viel von seinem rigiden Glanz verloren. Jetzt wird nach Aktenlage weitergedreht. Lone Scherfigs „Italienisch für Anfänger“ ist der fünfte Dogma-Film, jedenfalls in der dänischen Zählung. In der internationalen steht er an Platz zwölf von inzwischen über fünfzig Produktionen. Diese Zuordnungen werden zusätzlich durch eine Unterteilung in Generationen kompliziert. Die vier dänischen Filme bilden die erste, „Italienisch für Anfänger“ ist der erste Film der zweiten Generation. Was unterscheidet die zweite von der ersten? „Sie ist mainstreamiger als die ersten vier Filme. Mit ‚Italiensk‘ wollte ich einen unprätentiösen und leichten Film drehen, der sich nicht unbedingt in die Konkurrenz mit den vorigen Dogma-Filmen stellt“, so die Regisseurin Scherfig.
Andreas übernimmt als Pastor eine Vorstadtgemeinde in Kopenhagen. Da sein Vorgänger nicht daran denkt, das Pfarrhaus zu verlassen, geht Andreas ins Hotel. Dort lernt er den Portier Jørgen und bald auch eine Reihe seiner Schäfchen kennen. Jørgen steht vor der Aufgabe, seinen besten Freund Hal-Finn zu entlassen, der die Gäste des Fußballerrestaurants eher anherrscht als bewirtet. Da Jørgen seinen Auftrag nicht übers Herz bringt, flüchtet er sich in eine Ersatzhandlung. Er rät dem Freund, sich die Haare schneiden zu lassen. Hal-Finn ist zwar nicht der Mensch, der einen Wink mit dem Zaunpfahl versteht, geht aber trotzdem zum Friseur, wo ihn die Haarwäsche von Karen erotisch berührt. Karens Mutter ist eine sehr kranke Frau, die aber immer noch ganz gut weiß, wie sie ihre Tochter unter dem Druck des schlechten Gewissens halten kann. Ähnliche Erfahrungen macht auch Olympia mit ihrem Vater. Die fahrige junge Frau versucht so gut es geht, dessen hohe moralische Standards zu erfüllen und auch hinter dem Tresen einer Bäckerei den Schein zu wahren, scheitert damit aber täglich. Einen halben Film später, schon über den Gräbern ihrer Eltern, entdecken Karen und Olympia, dass sie eigentlich Halbschwestern sind.
So zwanghaft verklammert wie in dieser Nacherzählung wirkt „Italienisch für Anfänger“ allerdings nicht. Zwar hat hier jeder mit jedem zu tun, aber die Szenen springen leicht zwischen den verschiedenen Figuren und deren Milieus herum, wobei auch der gehetzte Kamerablick und die zum Glasigen neigende Bildqualität zur Distanzierung und Flüssigkeit beitragen. Das alles könnte irgendwo in einer dänischen Kleinstadt spielen, liegt aber in einem konkreten Vorort von Kopenhagen, und natürlich existieren die Drehorte im Original, von denen Scherfig erzählt: „Da liegt alles nah beeinander – der Friseursalon, das Hotel, die Kirche. Ich habe den Film im Grunde um diese Drehorte herumgeschrieben. Das war fast, als würde ich einen Dokumentarfilm drehen.“ Trotz dieser Gedrängtheit entsteht ein Eindruck von exemplarischer Gemeinschaft. Dadurch wirkt Scherfigs Film beinahe wie der Pilot einer TV- Serie, wenn auch einer natürlich sehr guten.
Ein Unbehagen an der Dogma-Gesetzgebung war immer, dass hinter dessen erfrischenden Effekten auch einige tote Pferde lagen, etwa ein widersprüchlicher Begriff von Authentizität und der Kampf gegen Bürgerlichkeit und Familie. Seit „Das Fest“ schien der Ödipus das heimliche elfte Gebot dieser dänischen Bewegung zu sein. Dass es nicht immer gleich Inzest sein muss, wenn man von der Zersetzung der bürgerlichen Familie sprechen will, wurde hingegen in „Idioten“ und seinem Konzept der freien Improvisation des Wahnsinns gezeigt.
Ein Reflex davon findet sich auch in „Italienisch für Anfänger“, hier allerdings völlig entspannt und auf leichtgängigere Räder gestellt. Alle Figuren sind ohnehin Singles, ihre Einsamkeit fällt aber deshalb nicht weiter auf, weil die Einbindung in Gemeinschaften, kulturelle Angebote, Arbeitsverhältnisse und Restfamilien halbwegs funktioniert.
Allerdings pflastern eine Menge Tote die leichte dramatische Bewegung. Zwei gerade verstorbene Pastorenfrauen stehen im Fond, und Olympias Vater und Karens Mutter bieten kaum einen Ansatz, um mit ihnen jenseits von Mitleid und Zwang umzugehen. Relativ umstandslos werden sie denn auch beiseite geräumt, einmal wird buchstäblich der Hahn abgedreht, um den Nachkommen Luft zu verschaffen für neue soziale Möglichkeiten, Ersatzfamilien und konventionelle Liebesgeschichten. „Italienisch für Anfänger“ bezweifelt nicht, dass die neuen, frei vereinbarten Beziehungen besser sind als die alten.
Scherfig erklärt diesen Hang zur Familie so: „Die Dogma-Leute sind alle ungefähr im gleichen Alter. Wir haben kleine Kinder, unsere Eltern werden jetzt alt. In unseren Filmen geht es darum, wo wir als Individuen gerade stehen, und das hat eigentlich nicht so viel mit Dogma zu tun. Ich bin jetzt mehr Mutter als jemandes Tochter: In meinem Film geht es deshalb auch darum, als Erwachsener wirklich erwachsen zu werden.“
Für die Figuren wird ein Italienischkurs zum Katalysator und Ausweg aus der schweren Pragmatik des täglichen Lebens. Das Kulturzentrum ist der Ort, wo sich nicht nur Sehnsucht nach dem Fremden erfüllt, sondern auch soziale Klassen mischen oder doch auf gleicher Höhe begegnen: „Der Priester kommt mit Leuten wie den jungen, trashigen Frauen zusammen, die er sonst gar nicht kennen lernen würde. So entsteht auch ein sehr demokratischer Raum.“
Im Übrigen auch ein sehr dänischer. Das würde gar nicht weiter auffallen, wenn das kommunale Glück nicht gerade durch das „Italienische“ so richtig nett bestätigt würde. Andererseits erweist sich auch, dass die blonde Olympia, die lange glaubte, eine italienische Opernsängerin als Mutter zu haben, genetisch eigentlich homogen ist. Auch für alle anderen geht es irgendwie gut aus. Im Zeichen des künstlichen Mangels hat Lone Scherfig einen temperamentvollen Gutfühl-Film entworfen.
„Italienisch für Anfänger“. Regie: Lone Scherfig. Mit Andreas W. Berthelsen, Peter Gantzler, Lars Kaalud, Ann Eleonora Jørgensen, Sara Indio Jensen, u. a. Dänemark 2000, 108 Min.
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