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Atemstillstand, Herzstillstand, Exitus

In der Schwerelosigkeit wird Walzer getanzt: Das wusste schon Stanley Kubrick, auf dessen Spuren das Expeditionsteam vom Theater Thikwà in den Sophiensälen einmal kurz durch die Weiten des Kosmos gleitet

2002 ist das Jahr der Geowissenschaften. Das Bildungsministerium hofft, besonders Jugendliche für die Geschichte der Entstehung der Erde, ihren Verbrauch und Schutz interessieren zu können. Das steht in den Grundsatzpapieren der rot-grünen Regierung. Gemerkt hat man davon noch nicht viel. Doch jetzt ist das erste Expeditionsteam zurückgekehrt, das erst eine Zeitreise zu den Ursprüngen der Menschheit und dann einen Flug zum Mond unternommen hat.

Wir sind froh, dass sie alles gut überstanden haben, denn der Bordcomputer HAL entwickelte unterwegs Eigenmächtigkeiten und musste abgeschaltet werden. „Atemstillstand, Herzstillstand, Exitus“. Angenommen hat sich der Odyssee im Weltraum 2002 das Berliner Theater Thikwà, das sich schon oft im Umgang mit Wahrnehmungsräumen und Hirnströmen jenseits der Norm ausgezeichnet hat. Seit 12 Jahren besteht das Theater für behinderte und nichtbehinderte Darsteller, deren Inszenierungen die Konventionen des Schauspiels listig hintergehen. Schon deshalb sind sie als Theater bekannt geworden und nebenbei als Projekt sozialer Integration. „Ohne Titel IV“ heißt ihr neuestes Stück in der Inszenierung von Carsten Ludwig, das in den Sophiensälen aufgeführt wird.

Unter den Premierenbesuchern sind viele Gruppen mit ihren Begleitern, deren Kommunikation durch einen betont einfachen Satzbau auffällt. Die Angst vor dem Komplexen und der Überforderung sitzt tief in den Betreuern. Das Theater Thikwà hat sie nicht. Die Spieler lieben das Komplizierte, zum Beispiel die Erklärung von Raumanzügen und das Reparieren von Antennen im All. So einfach ihre Spielweise ist, so mühsam sich manchmal die Worte auf der Zunge vorankämpfen, die Situationen sind von komplexer Mehrdeutigkeit. In der Geschichte der Forscher, die gegen das Auge des Computers um die Kontrolle ringen, spiegelt sich die Erfahrung deren, die sich dem Blick der Pädagogen fast nie entziehen können, nicht mal auf dem Klo. In der Auseinandersetzung zwischen Programmierern und Computerhirn, das nach Zerstörung der wichtigsten Verbindungen „Hänschen klein“ zum Erbarmen singt, schwingt die Ambivalenz des Mitleids mit dem Unzulänglichen mit.

Nicht zuletzt bringt diese Odyssee ins Grübeln, warum der Umgang mit künstlichen Intelligenzen diese Gesellschaft so viel mehr interessiert und mit größerem Selbstverständnis geübt wird, als der mit natürlich vorkommenden Arten. Lustig und philosophisch zugleich ist dieses Stück. Am Anfang spielen die acht Darsteller und ihr Musiker die Affenhorde, die durch den fremden Monolithen aufgeschreckt, das erste Werkzeug entdecken, den Knochen, und damit gleich die Konkurrenten am Wasserloch umbringen. Dass der erste Mord der Menschheitsgeschichte den Beginn der Entwicklung der Intelligenz markiert, klingt nicht gerade nach Optimismus. Doch wie Peter Pankow, schwarzbärtig und kompakt, mit heftigen Schlägen auf den schwarzen Monolithen von der Lust des Schädelzertrümmerns erzählt, ist irrwitzig komisch.

Denn er packt in sein Ausrasten mit hinein die Erfahrung dessen, der oft die Unruhe der anderen spürt, dass dieser Typ gleich ausrastet. Die Erkenntnis, wie die Angst das Denken stimuliert, hat vor kurzem auch das „Philosophische Quartett“ beschäftigt. Dem Theater Thikwà dabei zu folgen, macht entschieden mehr Spaß. Die Odyssee berührt aber auch die Sehnsucht nach dem Tod, dem tiefgefrorenen Dauerschlaf und der Befreiung aus einem als begrenzend und schmerzhaft empfundenen Körper. Ein Test, das Laufen auf einem schmalen Klebestreifen, soll entscheiden, wer in den Tiefschlaf für die Reise versetzt wird. Wer fällt, darf fliegen. „Ich bin sowieso schon heruntergefallen“, sagt Martina Nitz. Im Weltraum spielen sie Walzer, das war schon bei Stanley Kubrick so.

Die Schwerelosigkeit ist eine Verführung für jeden, dessen Geschwindigkeit nicht mit dem Zeittakt übereinstimmt, der den Großstadtalltag beherrscht. Im Himmel begegnen die Teilnehmer der Expedition denen, die fehlen: der Lieblingstante, die sicher gleich ihre leckeren Klöße auf die Erde hinabwirft, und dem alten Direktor, der in seinem Büro immer Dame spielte. So leicht mit der Trauer umzugehen, das schaffen auch nicht viele. KATRIN BETTINA MÜLLER

Ohne Titel IV. Oder 2002 – Odyssee im Weltraum. In den Sophiensälen, Sophienstr. 18, Berlin-Mitte, 20 Uhr, bis 3. 2. und 7. bis 9. 2.

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