piwik no script img

Alter Hut Grundsicherung

betr.: „Das Nichtstun bezahlen“ von Axel Braig, taz vom 17. 1. 02, „Neue soziale Balance“ von Barbara Dribbusch, taz vom 24. 1. 02 (Lohn und Brot)

Der Autor Axel Braig beschreibt ein unrealistisches Szenario. Geradezu erheiternd wirkt der Versuch, den guten alten André Gorz wiederzubeleben und das Projekt der arbeitsunabhängigen Grundsicherung erneut auf den Plan zu rufen. Selbst wenn die dahinterstehende Rationalität plausibel erscheint, bleibt der Ansatz doch mehr oder weniger theoretischer Natur und offenbart eine gehörige Portion Naivität. Die sinnstiftende Funktion von Beruf und Arbeit ist fester Bestandteil des geschichtlich gewachsenen westlichen Wertesystems und ein sozialpsychologisches Faktum. Um das zu ändern, bedarf es keiner neuen Schröder-Politik, sondern einer Kulturrevolution. Diese ist aber nicht in Sicht. Es wird also keine politischen Mehrheiten für die Verrentung weiter Bevölkerungskreise geben, auch wenn man weiß, dass gar keine Vollbeschäftigung mehr möglich ist. Eine aus Steuergeldern finanzierte Grundsicherung würde den (noch) arbeitenden Teil der Bevölkerung auf die Barrikaden treiben. Purer Neid auf die Nichtarbeitenden und Zeitbesitzer als auch die tief verinnerlichte Arbeits- und Leistungsmoral wird das zu verhindern wissen.

Was würde es eigentlich bedeuten, wenn die gesellschaftliche Verpflichtung zu arbeiten entfiele und Leistungsbereitschaft den Status der Freiwilligkeit bekäme? Ein Großteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter wäre bestimmt arbeitswillig. Es stände allerdings keine staatliche Arbeitsvermittlung mehr zur Verfügung. Der Staat hätte sich aus der Verantwortung in diesem Sektor zurückgezogen und seine Berufsberater, Arbeitsvermittler und EDV-Fachkräfte altersunabhängig gleich mit in Rente geschickt.

Es ist allgemein bekannt, dass der Arbeitsmarkt im Zuge der Produktiventwicklung der Wirtschaft im niedrig qualifizierten Bereich wegbricht. Jugendliche ohne Schulabschluss und mit geringer Bildung haben keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Wäre es hinnehmbar, dass ein bedeutender Teil der Jugendlichen nach der Schule gleich verrentet wird? Wie würden die Betroffenden diese Situation bewältigen? Wird ihnen ein Hilfestellung angeboten? Bräuchte die Gesellschaft nicht neue Institutionen, die praktische Lebenshilfe und psychologische Betreuung in gigantischem Ausmaße bereitstellen müssten. Lebensplanung ohne erwerbsmäßige Beschäftigung: wie viele Menschen wären damit schlichtweg überfordert? Intellektuelle, wie Herr Braig, haben natürlich keine psychischen und materiellen Probleme damit, ihr Leben ohne Zeitkorsett selbstbestimmt produktiv auszugestalten. Als Hausarzt kann man gut und gerne einem großen Teil der potenziell Erwerbsfähigen zumuten, vom Existenzminimum zu leben. Selbst hat man allerdings 15 Jahren lang in einem hoch qualifiziertem Beruf gearbeitet und ein hübsches Sümmchen beiseite gelegt, um anschließend genüsslich in den Tag hineinzuleben. Nebenbei wird so das eine oder andere Buch fertig. Toll! Was es heißt, Jugendliche ohne Schulabschluss und ohne Chancen auf Integration in die Arbeitswelt, ins Leere laufen zu lassen, dass lässt sich nicht nur (aber auch) im Osten beobachten. Die staatliche Verrentung ökonomisch nicht mehr benötigter Arbeitskraft wird die Eigeninitiative weiter lähmen, die offenkundige mentale Dumpfheit und Frustration unter jungen Menschen sich noch mehr ausbreiten. Hier ist ein Mehr an Hilfestellung und Perspektive gefordert, also ein Mehr an gesellschaftlicher Verantwortung und kein Rückzug auf die materielle Existenzabsicherung. Die gesellschaftliche Realität ist sowieso eine andere: Der politische Druck auf Arbeitslose, einen Job zu finden, wächst. Der Sozialstaat ist out und der Versorgungsmentalität wird der Kampf angesagt. Stärkere Eigeninitiative, Selbstverantwortlichkeit wird jetzt vom Einzelnen eingefordert. Frau Dribbusch nennt das die „neue soziale Balance“. Eine ambivalente Entwicklung, die Verluste am unteren Ende der sozialen Scala in Kauf nimmt. Wer hierzu eine Alternative anbieten will, der muss sich schon mehr einfallen lassen als den alten Hut Grundsicherung. HARTMUT GRAF, Hamburg

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen