: Traumverhangener Putzzwang
■ Die belgische Compagnie Mossoux-Bonté entwirft beim Tanz-Festival Bilder zum Sound der Intensivstation
Beigefarbene Leiber ohne erkennbares Geschlecht und ohne erkennbare Individualität wälzen sich zeitlupenartig in einem Haufen – wie Maden oder Würmer. Langsam trennen sich die Körper, offenbaren Geschlechtsmerkmale wie einen BH oder Stöckelschuhe oder auch einen schwarzen Straps und begeben sich in die Menschwerdung. Am Ende sind alle tot und die herunterhängenden Lämpchen tanzen wie Irrlichter über den Körpern.
Die belgische Compagnie „Mossoux-Bonté“ entwarf bei ihrem Auftritt im Schauspielhaus mit drei Frauen und zwei Männern ein skurriles, ironisches, surrealistisches, traumverhangenes Bilderpanoptikum, das noch lange in der Erinnerung haften bleiben wird. Dass das Leben eine ebenso lustige wie schmerzhafte Gratwanderung zwischen Selbstfindung und -bestimmung und Anpassung an und Verformung durch die Gesellschaft ist, ist eine Binsenweisheit. Der Stil, mit dem die Choreographen Patrick Bonté und Nicole Mossoux“ diesen Inhalt vermitteln, ist alles, nur nicht realistisch. Bonté und Mossoux arbeiten seit 1985 zusammen und ihrem 60-minütigen Stück „Hurricaine“ ist die lange Erfahrung einer gemeinsamen Sprache anzumerken. „Hurricaine“ ist eine Metapher für die Stürme der Seele und von denen gibt es in dieser kurzweiligen Stunde eine Menge zu sehen.
Da gibt es sich seltsam bewegende Schaufensterpuppen, da gibt es eine gesichtslose Frau mit Putzzwang, da häutet sich einer, da posieren zwei für ein Hochzeitsbild, da liegt ein Epileptiker auf dem Sofa und wird von haarsträubenden „Medizinern“ mit Spinnen versorgt – die Begleitmusik ist der Herzschlagpiepston aus der Intensivstation. Zwei Frauen treiben es mit einem toten Hund, ein Liebespaar küsst sich sozusagen ohne Kopf – um den haben sie Tücher gewi- ckelt.
Die Bilder wollen einerseits verstanden werden, andererseits laden sie ohne jede eindeutige Festlegung dazu ein, in diese skurrile Welt einzutreten und sie mitzuerleben. Jedes Bild und jede Geste ist gebrochen und entfaltet sowohl die ganze Tragik als auch die ganze Skurrilität. In diesem Sinne ist der Auftritt der nackten Frau mit einem Gewehr und einem Sonnenschirmchen auf dem Kopf ein echter Höhepunkt: Es tat sich eine erschütternde Diskrepanz auf zwischen einer absoluten Kunstfigur und der Reinheit des Menschen. Das ging unter die Haut, wie so vieles andere auch.
An körperlichen Bewegungen wird alles eingesetzt, nur niemals vordergründige Virtuosität. Auch Musik gibt es keine, höchstens zweckdienliche Geräusche wie einen scharfen Sirenenton zu Anfang, eine sphärische Obertonfläche und ein Esperanto-Gestotter ohne jede Semantik. Auch die feine Lichtregie überzeugt durchgehend. Ein großer Abend innerhalb des Festivals, von dem man sich kaum vorstellen kann, dass es wie so viele andere überregional wirkende Einrichtungen in dieser Form nicht mehr da sein wird.
Ute Schalz-Laurenze
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