: Asketisches Barbarentum
Am Staatstheater Kassel wurde „Limes. Mark Aurel“ von Volker Braun in der Regie des jungen Musiktheaterregisseurs Sebastian Baumgarten uraufgeführt. Trotz der Nähe zur Pop-und-Party-Generation verzichtet die Inszenierung auf elektronische Effekte und setzt auf den Sog der Sprache
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Der Untergang des Römischen Reiches dauert knapp achtzig Minuten. Mehr Zeit gönnt sich der globalisierte Zeitgenosse wohl nicht im Blick auf die Vergangenheit eines Reiches, das den in ihm Lebenden fast die ganze Welt war. Die Beschleunigung, mit der Volker Braun in seinem Stück „Limes. Mark Aurel“ Geschichte zusammenrafft, ist der erste Druck, den der Zuschauer aushalten muss – und sie kommt aus der Ungeduld einer ergebnisorientierten Gegenwart. Die Vers- und Dialogzeilen von „Limes. Mark Aurel“ aber gleichen Aphorismen, und man kann hinter jeder einen ganzen Textspeicher voll philosophischen Materials aus der Antike und der Gegenwart vermuten. Das macht das Stück nicht einfach. Wohl dem, der vor der Aufführung schon mal im Programmheft gelesen hat.
Volker Braun, der 2000 den Büchner-Preis erhielt und zurzeit als Brüder-Grimm-Gastprofessor in Kassel lehrt, hat „Limes. Mark Aurel“ mit zwei langen Gedichten gerahmt. Im Prolog „Die Ruhe Roms“ kommt die Unruhe aus der Erkenntnis, dass auch in den Hirnen der „Barbaren“ Denkbewegungen stattfinden, im Epilog „Lagerfeld“ tritt als modisches Zitat auf dem Laufsteg der Geschichte auf, was zuvor ein Menschenleben brauchte, um gedacht zu werden. Der Limes, der dem Stück den Titel gab, bezeichnete mit der Grenze des Römischen Reiches zugleich eine des Rechts und des Denkens. Die Gewalt, auf der das System im Innern gründete, wurde an dieser Stelle nach außen projiziert, auf die Barbaren. Diese Anstrengung verweigert Mark Aurel, deshalb vollzieht sich an dieser „Grenze“ seine Niederlage.
Die Uraufführung am Staatstheater Kassel beginnt mit einem Bild wie aus dem Wellness-Center. Galen (Ingolf Müller-Beck), der Arzt, und Fronto (Andreas Haase), der Redner, lassen sich massieren: zwei Gewinnertypen, die gerade am Ball sind. Golfer streichen durch den Hintergrund. Dass Mark Aurel (Michael Grimm), dessen Körper sich im Gegensatz zu denen seiner Berater weich, weiß und widerstandslos ausdehnt, lieber Akten studiert, scheint ihnen deplatziert und gefährlich. Denn das Wissen auszuhalten scheint ihnen nicht möglich. Das Wissen um den Preis der Macht. Das zweite Bild spielt in einem Steinbruch in Afrika. Unterirdisch verborgen, wie dort die Sklaven, die nicht einmal zum Schlafen herausgelassen werden, soll bleiben, auf welche Produktivkräfte sich die Kultur gründet. Mark Aurel verweigert die Verdrängung, das kostet ihn die Gesundheit.
Die Kultur des Sich-wohl-Fühlens, Brot und Spiele konsumieren, das intensive Erleben suchen: Das ist ein vertrautes Programm, das sich der Zeitgeist als Abwehr gegen die Erfahrung der eigenen Bedeutungslosigkeit gebaut hat. Der junge Regisseur Sebastian Baumgarten benutzt es ohne großen Aufwand als Gewand für die Haltungen der antiken Redner und historischen Figuren. Es passt wie angegossen. Es passt natürlich deshalb, weil Volker Braun durch den historischen Stoff über den Philosophen auf dem Kaiserthron, der von 161 bis 180 n. Chr. als der mächtigste Mann der Welt galt, auf die Gegenwart gezielt hat. In dem Gefühl der Beschleunigung des Untergangs und der Ohnmacht der Erkenntnis: „Wir wissen viel, aber wir handeln anders“, spiegelt sich das Jetzt.
Ganze Unterrichtsstunden der Kulturkritik könnte man an einzelnen Textzeilen aufhängen. Während der Reisen durch das Reich gibt Fronto an Commodus (Katrin Wichmann), ein monströses Kind und den voraussichtlich kommenden Cäsar, die Lehren weiter: „Kein anderes Artefakt hat mehr Forscherdrang auf sich gezogen als die Waffe. Bis heute sinnen die Begabtesten jeden Fachs auf die Vervollkommnung der Gewaltmittel. Je effektiver die materielle Kultur einer Gesellschaft, desto effektiver die Gewalt.“ Es gibt keinen Widerspruch zu diesen Lehren des Stücks. Die Katastrophen, die in jeder Szene eine Bresche in die Rüstung des mächtigen Imperiums Rom schlagen – die Pest in der Stadt, der Angriff der Barbaren, die Intrigen in der Familie –, sie werden nicht als Katastrophen erzählt, sondern wie ein Experiment, das die vorausgegangene Theorie verifiziert.
Das alles hat Volker Braun in einen poetischen Plauderton gesetzt, der das Ungeheuerliche so nonchalant streift, dass die Sätze längst verflogen sind, während ihr Sinn sich langsam wie Gift ausbreitet. Sebastian Baumgarten nimmt den Text wie ein Libretto. Der junge Musiktheaterregisseur, der in Kassel mit einer Entstaubung und Neuinterpretation des „Rosenkavaliers“ aufgefallen ist, wird zwar zur Pop-und-Party-Generation gerechnet. Aber er inszeniert kein Theater, das geil wie Kino sein will und in der Konkurrenz der Medien noch eins draufsetzt. Diese Möglichkeit wird zwar ironisch angedeutet: Mitten im Stück wird eine Orgie eingeschoben, schließlich befinden wir uns im alten Rom, Dekadenz ist ein Muss, und Galen und Fronto betätigen sich kurz als Fernsehköche, bevor das Ensemble Sex mit frischem Pizzateig hat. Dass der Spuk kurz bleibt, dazu trägt die akustische Kulisse von Robert Lippok bei, die in Geräuschen und entfernten Einspielungen zwar die Verfügungsgewalt über einen großen akustischen Apparat andeutet, ihn aber nicht einsetzt. Ein elektronischer Verzicht. Denn alle Wucht liegt schon in der Sprache. Und in den Gedanken.
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