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Die Transitstrecke

Erster Ausstieg Bad Steben im Frankenwald. Wer mit dem Überlandbus von Berlin nach München will, braucht Sitzfleisch – oder Donald-Duck-Hefte

von THILO KUNZEMANN

Der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) liegt am Rand von Berlin. Das ist nur eine von vielen unbeabsichtigten Folgen der Wiedervereinigung. Abgelegen wie er ist, passt der Platz unter dem Funkturm aber ausnehmend gut zu den angebotenen Busreisen.

Jeden Tag um 8.15 Uhr startet ein doppelstöckiger Bus in Richtung München. Für rund 40 Euro bietet der Bayern-Express eine Auswahl der hässlichsten Städte des Freistaates und Stadtrundfahrten durch die betonierte Idylle fränkischer Kurorte. In neun langen Stunden rollt er dabei über das komplette Sortiment deutsch-deutscher Straßenbaukunst.

Die Autobahn bis zum Mitteldeutschen Interkontinentalflughafen Leipzig-Halle ist erstklassig und dreispurig. Zeit kostet nur der Dauerstau am Schkeuditzer Kreuz. Aber der Blick aus dem Busfenster sorgt für Abwechslung. Flugzeuge rollen über eine Brücke auf die, in Berlin-Schönefeld heiß ersehnten und hier neu gebauten, jumbotauglichen Start- und Landebahnen. Im Hintergrund liegen die ersten Häuser des Dorfes Schkeuditz. Noch immer weiden auch die Schkeuditzer Kühe neben dem Flughafengelände. Die Namensänderung von Schkeuditzer in Mitteldeutscher Flughafen kann deshalb als Kampfansage an den geplanten Berliner Großflughafen verstanden werden. Doch am Leipziger Airport herrscht beschauliche Ruhe. An einem gewöhnlichen Samstag rechtfertigen ein Flug nach Djerba und einer nach Monastir den interkontinentalen Anspruch. Der Bau überzeugt vor allem durch bunt gemalte Bilder der unvollendeten Schalterhalle. An Wandertagen bestaunen hier Schulklassen die Zukunft des Mitteldeutschen Reisens.

Den Bayern-Express ficht das nicht an. Übertriebener Komfort war noch nie ein Argument für das Reisen im Überlandbus. So hält der olivgrüne Doppeldecker nicht vor dem überdachten Vordach der Schalterhalle, sondern neben den Mülltonnen, in denen die Benutzer des Langzeitparkplatzes nach ihrer Rückkehr von der Halbinsel Djerba ihre Muschelsammlungen entsorgen. Doch nach tunesischen Stränden sehnt sich keiner im Bus. Aus rechtlichen Gründen wird in Schkeuditz nur zugestiegen. Der erste Ausstiegshalt ist Bad Steben, jenseits der Grenze, in Bayern.

Ungehalten und mit leichtem Berliner Akzent erkundigt sich ein älterer Mann mit Gamsbart auf dem Hut nach der Ankunft im fränkischen Kurort. Die Bordbetreuerin, so ihr Titel, verweist freundlich auf den Fahrplan und wendet sich wieder dem Würstchenkocher zu. Das feine Aroma vormals eingeschweißter Wiener durchdringt den Wagen. Auch heißen Kaffee, Tee und Kakao bietet die Bordküche. Auf Knopfdruck brüht eine Allzweckmaschine diese Instantgetränke frisch auf.

Antonio reist zum ersten Mal mit dem Überlandbus. Er trinkt Cola aus der Flasche mit Strohhalm „Coca-Cola ist lecker“, sagt er und guckt zufrieden aus dem Fenster. Er ist fast neun Jahre alt und fährt das erste Mal allein in die Ferien, um seine Großeltern in Bad Steben zu besuchen. Eine Menge guter Gründe für ein bisschen Zufriedenheit. Großzügig bietet er Kekse an.

Freudig und laut erklingt eine Stimme aus den vorderen Sitzreihen. „Jetzt sind wir gerade von Sachsen-Anhalt nach Thüringen gefahren, Martha.“ Wie bei fast allen Landesgrenzen ist der Unterschied mit bloßem Auge nicht auszumachen. Gnädig bedeckt ein letztes Frühlingsschneegestöber die Industriegebiete und Parkplätze entlang der Autobahn. Auf einer Wiese grasen ein paar thüringische Rehe. Meterhohe Lärmschutzzäune versperren die Sicht auf thüringische Dörfer.

Grüß Gott in Hof

Antonio entdeckt die erste echte Sehenswürdigkeit. „Die gefälschten Zwillingstürme“, ruft er und weckt einige Fahrgäste aus ihrem Autobahnschlummer. Neongelb und knappe zehn Meter hoch stehen zwei große Betonsilos inmitten von Bauschutt und Schnee. Die Aufregung legt sich. „Woher der Junge das nur hat“, wundert sich eine ältere Dame und schüttelt bedächtig ihren graublauen Haarschopf. Erst in Bad Berneck wird sie wieder von ihrem Kreuzworträtselheft aufschauen. Antonio wendet sich derweil wieder dem Donald-Duck-Heft zu. Er muss die Geschichte fertig lesen. Bad Steben ist nicht mehr weit und er hat das Heft von dem dicken Jungen aus der Nebenbank geliehen.

Der dicke Junge hat einen ganzen Rucksack voller Donald-Duck-Hefte dabei – „Die kriegt man ganz billig auf dem Flohmarkt in Berlin“ – und er trägt ein Schwänzchen. In der DDR waren kurz geschorene Haare mit Schwänzchen bei minderjährigen Jungen sehr beliebt. Je länger das Schwänzchen, desto besser. Seit der Wende sieht man sie kaum noch. Bezeichnenderweise findet sich gerade im Bayern-Express noch eines der seltenen Exemplare.

Auch die Busverbindung ist ein Überbleibsel. Seit Jahrzehnten transportiert der Bayern-Express Menschen von Berlin nach München. Nur der Zwischenstopp am Schkeuditzer Flughafen ist neu. Zu DDR-Zeiten waren Halts auf der Transitstrecke nicht erlaubt.

Ein klein wenig Berliner Inselgefühl bleibt. Der Osten ist noch immer Transitland. Nach knappen drei Stunden passiert der Bus den Parkplatz, der früher Grenzposten war. Drei Autobahnstunden wären es von hier nach München. Laut Fahrplan bleiben noch fünfeinhalb. Die Rundtour beginnt. Am Rasthof Frankenwald wartet der Pendelbus nach Bad Steben. Die Raucher kommen zum Zug. Von Antonio bleiben nur ein paar Kekskrümel zurück.

Seit der Autobahnausfahrt Köditz ist Schluss mit flotter Fahrt. „Grüß Gott in Hof“ steht auf einem großen Schild. Ein Vorort-Gebrauchtwagenhändler wirbt mit einem Transparent für sein Internetangebot „www.ich-suche-ein-auto.de“. Der Busfahrer lässt sich von der Konkurrenz nicht verunsichern und kurvt durch 70er-Jahre-Siedlungen und verkehrsberuhigte Zonen zum Hauptbahnhof. Er parkt mit Blick auf den ICE nach München und gesellt sich zu den Rauchern. Halbzeit, es ist 12.15 Uhr.

Auch in Bayreuth hält der Bus am Hauptbahnhof. Wieder steht ein ICE-Zug auf den Gleisen. Der aus Hof kann es allerdings nicht sein, der müsste mittlerweile kurz vor München sein. Als Busreisender, dieser Trost bleibt, sieht man mehr vom Land. Zum Beispiel die Bayreuther Justizvollzugsanstalt St. Georgen. Wer die Festung in Moabit kennt, wird von dem flachen Bau angenehm überrascht. Wie ein Großteil der Wagnerstadt besteht auch das hiesige Gefängnis aus hellen Granitblöcken mit eingelassenen Reliefs. Festspielatmosphäre vermitteln auch die Kneipen im Bahnhofsviertel. Meistersinger Eck und Holländer Stuben bleiben zur Linken liegen.

In Nürnberg kommt es für eine ältere Dame zu einer unliebsamen Überraschung. Statt am Busbahnhof hält der Bus seit einigen Tagen an einer provisorischen Haltestelle im Stadtzentrum. „Meine Abholer stehen aber am Busbahnhof“, ruft sie empört. Warum der Bayern-Express seinen Stopp verlegt hat, weiß die Busbegleiterin nicht. Für die verbliebenen Fahrgäste bietet der Halt in der Nähe der Nürnberger Filiale der Bayerischen Landeszentralbank aber interessante Ausblicke. Im Gegensatz zu den meist eintönigen Bahnhofsparkplätzen ist hier Leben auf der Straße. Ein junger Mann mit langen, schwarzen Haaren schreitet die Stufen zum Haupteingang der Bank empor. Seinen ebenfalls schwarzen und mittelalterlich gerafften Mantel schleppt er wie einen Brautschleier hinter sich her. Zehn Meter entfernt wartet ein mit Lederfransen behangener Mitfünfziger am Zebrastreifen. Ungeduldig klickt er mit den Spitzen seiner roten Cowboystiefel gegen den Ampelpfahl. Die Straße ist leer, aber rot ist rot. Ingolstadt, soweit das vom Busfenster aus zu beurteilen ist, unterscheidet sich von den hässlicheren Ecken in Neukölln nur durch den Audi-Shuttle am Hauptbahnhof. Vorne, hinten und an beiden Seiten des Busses steht als einziges Fahrziel Audi. Als hätte sich die betongraue Stadt um die Vorzeigeautos geschlungen und wollte jeden Neuankömmling gleich vors Werkstor verfrachten.

Kurz vor München ein Déjà-vue. Der Fernsehturm – aber nein, er ist kleiner und statt der Kugel krönt ein dosenförmiger Wulst seine Spitze. Beim Stop and Go über die verstopfte Leopoldstraße verfliegt das letzte bisschen Berlinnostalgie. Herzlich willkommen im Sonnenbrillenland. Um kurz nach fünf kommt der Bus am Hintereingang des Münchner Hauptbahnhofs an.

In einem Halbkreis stehen die letzten Fahrgäste vor dem Kofferraum und warten auf ihr Gepäck. Ein Mitsechziger hat sich etwas abgesetzt. Er steht vor einer Döner-Bude, studiert die Preise und schüttelt den Kopf.

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