: Die Absteiger der Herzen
Köln entscheidet die Fußballgroteske gegen St. Pauli 2:1 für sich und hilft so beiden Klubs weiter bei ihrem Abstieg in die finanziell abgesicherten Untiefen von Liga zwei
MÜNGERSDORF taz ■ Oft schon haben wir die Albernheiten der „ran“-Datenbank verlacht. Jetzt ist das anders. Jetzt hätten wir gern eine komplette solche Erbsenzählstatistik für die frühen Jahre seit Ligastart 1963. Dann könnten wir beweisen: Noch nie gab es ein Erstligamatch, in dem so viele so absurd klare Gelegenheiten so abenteuerlich versemmelt und vergurkt, verhaspelt und verdaddelt wurden. Immerhin: Die Fußballgroteske von Müngersdorf zwischen Köln und St. Pauli war ein Heidenspaß.
Vorher hatte Dirk Lottner, Kölns Kapitän, noch zerknirscht erklärt: „Wir haben in einem Jahr so viele Negativrekorde aufgestellt, wie zuvor keine andere FC-Mannschaft in über 50 Jahren.“ Vor allem ist da an die 1.033-minütige Torlosigkeit zu denken, den feinen Ligarekord. Dann kam dieses Spiel: Noch nie hatte der FC so viele Chancen, und noch nie einem Gegner so viele Möglichkeiten geschenkt – und doch gewonnen. Dabei traf Lottner selbst schon früh: einen Freistoß aus großer Entfernung wie eine Rückgabe auf den Torwart schlenzen – und der ließ ihn piplicahaftig, wiewohl ohne Kopfball, einfach durchflutschen.
Beide Kellerkinder hatten ihre angeblich letzte Chance. Und beide wollten sie dem Gegner schenken. Groteske Szenen im Minutentakt: wechselseitige Fehlpassstafetten, Einladungen zum Torschuss hier, höflich und unfähig vergeben dort. Nur Paulis Ugur Inceman spielte oberehrgeizig offensiv wie defensiv stark und schaffte, freundschaftlich assistiert von Torwart Pröll, sein erstes Bundesligator.
Im Moment sieht es ja so aus, als könne man sich mit minimalen 28, mindestens aber mit 30 Punkten vor dem Abstieg retten. Das macht doch stutzig. Und es ist nahe liegend, dass beide Teams eben nicht in Liga eins bleiben wollen. Es ist die raffinierte Idee, überhaupt zu überleben. Erstligist zu sein, ist in diesen Tagen des Kirch-Niedergangs eine riskante Sache: Wer alimentiert demnächst? Wer schüttelt sein Füllhorn aus TV-Geldern über die nimmersatten Klubs? In Liga zwei hingegen sind die Gehälter eklatant niedriger. Und: Hat nicht der Kanzler gesagt, höchstens Zweitligaklubs und Amateure sollten öffentlich alimentiert werden? Also geht man liebe mal vorsorglich runter, zu solch erstklassigen Zweitligafleischtöpfen. Denn: Welcher Kanzler würde, zumal im Wahljahr, Denkmäler des deutschen Fußballs wie den glorreichen 1. FC Kölle und den gloriosen FC St. Pauli ausbluten lassen?
Alles ist anders geworden: Der Stadionsprecher muss wegen der teilabgerissenen Dreiviertelarena „die treuen Fans der Nordkurve in der Südkurve“ gegrüßen. Von da aus machte der Abstiegskampf im Wortsinne Spaß: der Kampf um den Abstieg. Alle hatten viel zu leiden – und zu lachen. FC-Keeper Pröll: „Ein Superspiel.“ Pauli-Coach Demuth: „Für die Zuschauer hochinteressant“. Sieger Lottner: „Wir planen für die 2. Liga.“ Verlierer Holger Stanislawski: „So gewinnt man nicht mal gegen eine Kreisklassenmannschaft.“
Unsere geldwerte Vermutung, dass es sich um ein fürsorgliches gegenseitiges Benefizspiel handelte, ein clever getarntes Gijon, fand sich allein in der Nachspielzeit endgültig bestätigt: Erst vergaben St. Paulis Schützen mehrfach kunstvoll freistehend, dann brauchte es für den versehentlichen Kölner Siegtreffer durch Scherz in Minute 93 zunächst den Pfosten als Vorlagengeber – und dann eine erneut falsche Armbewegung von Torwart Henzler. Ein komischerweise heftig bejubeltes Tor, das an der Absicht und am zielsicheren Gang des FC in die sichere Schutzzone mit Greuther Fürth und vermutlich Wacker Burghausen nichts ändern wird.
Jedenfalls macht im selbstverliebten Köln schon der Begriff vom „Absteiger der Herzen“ die Runde. Und Pauli braucht nach dem historischen 2:1 gegen die Bayern nur noch den Stadtrivalen HSV nächste Woche abzuwatschen. Dann ist die Mission Bundesliga 2001/02 übererfüllt. Das Problem wäre nur: Sie fingen wieder an zu rechnen – und im besten Falle reicht ein zufälliger Sieg am letzten Spieltag gegen Nürnberg zu Platz 15 mit 28 Punkten. Doch Obacht, ihr Paulis: Nürnberg aus dem Kanzlerkandidatenlande Stoiber will auch unbedingt absteigen aus der teuren kirchlosen Liga.
BERND MÜLLENDER
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