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Mathematik als Komplexitätsgenerator

Berge von Zahlenreihen, die zu singen einen Kehlkopf kostet: Heute Abend spricht der britische Komponist Brian Ferneyhough in der Akademie der Künste über sein dreizehn Minuten langes Musikstück „Unsichtbare Farben“

„Unsichtbare Farben“, hat Marcel Duchamp die Titel von Bildern einmal genannt. Das gilt besonders für surrealistische Bilder. Denn hier stehen die Worte oft in keinem erkennbaren Zusammenhang, ja in einem gebrochenen, bisweilen sogar widersprüchlichen Verhältnis zu den gemalten Gegenständen und Szenarien. Gerade deshalb steuert der Titel dann die Aufmerksamkeit und die Assoziationsfelder des Betrachters. Er sensibilisiert ihn für abwesende Bedeutungen oder – wie der findige Komponist Brian Ferneyhough es einmal ausdrückte: „in Richtung auf eine unmittelbar nicht wahrnehmbare Präsenz eines komplexen Feldes semantischer Energien“.

Brian Ferneyhough nun hat seinerseits ein Stück geschrieben, das den Titel „Unsichtbare Farben“ trägt – ein dem Anschein nach kaum erwähnenswertes Stück Musik. Dauer: circa 13 Minuten. Besetzung: Violine solo. Wer gewohnt ist, Komponisten an ihren Opera magna, ihren abendfüllenden sinfonischen oder dramatischen Werken zu messen, muss hier kapitulieren.

Brian Ferneyhough, Jahrgang 1943, gehört heute zu den wichtigsten lebenden Komponisten. Man kann seine Leistung durchaus als soziokulturelle Unwahrscheinlichkeit würdigen. Er hat die mathematisch orientierten Konstruktionsverfahren der Fünfzigerjahre nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, als unmusikalisch verworfen, sondern sie stattdessen wie faule Kompromisse erst richtig radikalisiert. In seinen Skizzen finden sich Berge von Zahlenreihen, inkohärenten Motivketten, die zu singen leicht einen Kehlkopf kostet, und rhythmischen Konstellationen, die die Grenze zur Nachvollziehbarkeit längst überschritten haben.

Auf den ersten Blick erscheint es, als erwarte sich der Komponist von der mathematischen Schlüssigkeit seiner Entwürfe auch die musikalische Schlüssigkeit seiner Partituren. Tatsächlich aber degradiert Ferneyhough die Mathematik zum schieren Komplexitätsgenerator. Sehr wohl bringt er seine Partituren durch die auf Zahlen fixierte Schreibweise zum leuchten; Schrift ist – mehr als anderswo – eine Voraussetzung seiner Musik. Aber über der numerisch generierten, mikroskopisch ausgeleuchteten Tiefenstruktur erklingt eine verwischte Oberfläche. Es sind diese verhuschten und trotzdem mit Nachdruck gesetzten Linien Ferneyhoughs, die tatsächlich zu den wenigen echten Neuerungen der Musik nach 1950 gehören.

Wenn Ferneyhough nun 1998 ein dreizehnminütiges Musikstück für Violine solo schreibt, dann liegt unter der klingenden Oberfläche ein struktureller Wust, der jede Oper, jede Sinfonie in den Schatten stellt. Was erklingt – ein „furioso“ voller rhetorischer Brüche – kann die motivischen Zusammenhänge bestenfalls andeuten. Die gehörte Musik verhält sich also zu ihrem konzeptionellen Ursprung wie der Titel eines Gemäldes zum Dargestellten. Sie wird „unsichtbare Farbe“.

Brian Ferneyhough lebt seit 1987 in Kalifornien. Er steht heute Abend als Gast im Zentrum einer „langen Nacht“ in der Akademie der Künste und dabei stellt er Ausschnitte aus seiner werdenden Walter-Benjamin-Oper „Shadowtime“ vor und spricht über sein Stück „Unsichtbare Farben“. Dass außerdem Dietrich Fischer-Dieskau laut über Goethe nachdenken, Christian Grashof aus dem Nachlass von Klaus Schlesinger lesen und ein anonymer Vorführer experimentelle Kurzfilme der vergangenen drei Jahre zeigen wird: all das sein am Rande und der Vollständigkeit halber erwähnt. BJÖRN GOTTSTEIN

„Lange Nacht“ ab 19 Uhr. Brian Ferneyhough: 22 Uhr. Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten

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