Suche nach Erklärungen

betr.: „Wohlfeile Rückschlüsse“, „Das Gesetz des Handelns“ (Erfurt), taz vom 29. 4. 02

Wir liberalen taz-LeserInnen lassen uns gern von Sozialwissenschaftlern aufklären: „Hunderttausende Jugendliche, die sich mit Gewalt im Internet, am PC, auf Video oder im Fernsehen befassten, würden niemals gewalttätig.“ Interessant. Nach dieser Logik hat Alkohol auch nicht den geringsten Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit, denn hunderttausende, die in jeder Samstagnacht alkoholisiert ihren Wagen steuern, verursachen keinen Unfall. Und die Unfallstatistik beweist, dass es praktisch kein verantwortungsloses Verhalten im Straßenverkehr mehr gibt, schließlich gab es seit Beginn der Statistik im Jahre 1953 noch nie so wenig Unfalltote wie 2001!

Ebenso lässt sich statistisch die sinkende Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft nachweisen, besonders an deutschen Schulen. Das ist natürlich sehr beruhigend – Schublade auf, Statistik gefunden, Schublade zu. Wir sollten es aber akzeptieren, dass weniger vernünftige Menschen nach Erklärungen suchen für so etwas Unfassbares wie diesen Amoklauf. Und dabei fragen sie schon mal nach der Person des Täters. Oder nach den Bedingungen in unserer (Medien-)Gesellschaft, die die Vorbereitung und Durchführung solcher Taten möglicherweise beeinflussen. „In Krisen verraten Menschen viel über sich selbst“, das gilt auch für statistisch beruhigte Sozialwissenschaftler, taz-LeserInnen und -SchreiberInnen! CHRISTOPH DANE, Oldenburg

betr.: „Nachahmer sind nicht zu verhindern“, taz vom 30. 4. 02

„Nachahmer sind nicht zu verhindern“ – aber müssen sie deshalb nach allen Regeln der Kunst provoziert, ermuntert, animiert werden? Am 30. 4. abends läuft auf NDR (nicht im Privatfernsehen wohlgemerkt!) eine Zusammenfassung der Erfurter Ereignisse. In spannungssteigernder Parallelmontage, unterlegt mit suggestiver Musik, werden die letzten Minuten verschiedener Opfer erzählt; die Täterperspektive hingegen wird mit subjektiver Kamera dargestellt: verzerrte Optik, die Kamera (und mit ihr der Zuschauer) wandert bedrohlich die Schultreppe hoch, schockartig schneller Zoom auf das Eingangsschild des Schulsekretariats.

Wie schon nach dem 11. September macht sich die Berichterstattung auf allen Kanälen zum Verbündeten der Täter, inszeniert das Geschehen nachträglich in deren Sinn: als packenden Thriller. Man(n) oder Kind muss schon eine einigermaßen gefestigte Psyche mitbringen, um der Faszination solcher Bilder nicht auf die eine oder andere Art zu erliegen; wer anfällig für eigene Gewalt- oder Selbstmordfantasien ist, für den mögen sie wirken wie eine Mischung aus Appell und Gebrauchsanleitung.

„Vollends absurd wäre die Forderung nach (…) Selbstbeschränkung der Berichterstattung“ – dieser Satz, abgedruckt auf der Titelseite eines Bericht erstattenden Organs, erinnert an das empörte Abwiegeln jener schnauzbärtigen Sportschützen, die zurzeit auf keiner Fernseh-Doku-Besetzungsliste fehlen. Mit einem Journalisten wird diese Rolle des uneinsichtigen Bösewichts merkwürdigerweise nirgendwo besetzt. BERNHARD KÖNIG, Hennef