■ Erfurt: Die Suche nach Erklärungenund weitere LeserInnenreaktionen
: Oberflächliche Vorschläge

betr.: „Eher Gegen- als Miteinander“, Leserbrief von Kurt Edler, taz vom 2. 5. 02

Diese Suada an Halbwahrheiten und Unterstellungen gegenüber SchülerInnen und SchulreformerInnen ist kaum auszuhalten. Diese Unfähigkeit, Kritik zu ertragen, ist kaum zu überbieten. Erfurt in dieser Weise zu instrumentalisieren, ist fast schon unanständig. Wir LehrerInnen sollten souveräner an der öffentlichen Debatte über unser Schulsystem teilnehmen.

Dazu gehört auch, sich zu überlegen, wie man mit SchülerInnen umgeht, die – aus welchen Gründen auch immer – die Schule abbrechen. HANSJÖRG DODENHÖFT, Neuendettelsau

betr.: Fanal von Erfurt

Die Aussage, dieser junge Mensch sei volljährig gewesen, ist nicht zu akzeptieren. Niemand ist mit 18 Jahren erwachsen und hat die Kenntnisse und lebenspraktischen Erfahrungen, um sich in dieser komplizierten Gesellschaft selbstständig und verantwortungsbewusst zu verhalten.

[…] Angesichts der peinlichen Betroffenheitsrituale, die uns im Fernsehen vorgeführt wurden, angesichts unverantwortlicher politischer Vorschläge von Maßnahmen, die solche Katastrophen in Zukunft verhindern sollen, ist zu fragen: Was hat die Kultusministerkonferenz, in der die Kultusminister aller Bundesländer vertreten sind, getan, um das Land Thüringen in seiner Kulturhoheit (ein feudaler Begriff) darauf aufmerksam zu machen, dass seine Regelungen hinsichtlich eines Schulabbruches eines demokratischen Rechtsstaates unwürdig sind? Haben sich hier die Verantwortlichen als beratungsresistent und mit Demokratiedefiziten versehen erwiesen?

Und: Das „Fanal von Erfurt“ könnte einmal mehr darauf hinweisen, dass die menschliche und berufliche Zukunft der nachwachsenden Generationen in den neuen Bundesländern wenig wert ist. In den alten Bundesländern gibt es (noch!) Regelungen, die den vielen SchulabbrecherInnen Perspektiven für die Zukunft offen halten. Natürlich kommt es jeweils darauf an, welche Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für die Betroffenen in den Schulen und in den übergeordneten Dienststellen von den dort arbeitenden Menschen übernommen wird.

RENATE WUSSING, Braunschweig

betr.: „Der Schläger von Erfurt“ von Christian Schneider, taz vom 3. 5. 02

Dass Christian Schneider, ein Soziologe und Mitarbeiter des Sigmund-Freud-Instituts, dazu kommt, in seinem Artikel „Der Schläfer von Erfurt“ irgendeinen Zusammenhang zwischen Robert Steinhäuser und den Verschwörern der Atta-Gruppe zu konstatieren, ist mir in psychologischer und jeglicher anderen Hinsicht unbegreiflich. Die banale und absurde Aussage über die „auffällige Unauffälligkeit“ ist reaktionär. Dadurch kann allgemeine Angst und eine Verdächtigung aller gegenüber allen verbreitet oder zumindest multipliziert werden.

Dass „die erprobtesten psychologischen Ferndiagnostiker“ noch den Mund halten, machen sie richtig. Es ist noch zu früh, sich über Verhältnisse, Handlungen und Unterlassungen, die Robert vielleicht zum „Schlafwandler von Erfurt“ verwandelten, zu äußern. ANDREAS CHRISTINIDIS, Linden/Hessen

betr.: „Einer, dem es zu viel wurde“ von Björn Kern, taz.mag vom 4. 5. 02

Nach den meistens recht oberflächlichen Vorschlägen, die gewisse Politiker zu den Folgen der Ereignisse in Erfurt von sich gegeben haben, habe ich diesen Artikel von Björn Kern nicht nur als wohltuend, sondern auch als ein wenig beruhigend beunruhigend empfunden. Beruhigend, weil ich feststellen konnte, dass ich mit meiner Meinung zu den Auswirkungen der Egoshooter nicht ganz so einsam bin, beunruhigend, weil hier eine gesellschaftliche Grundstimmung beschrieben ist, welche richtig ist, aber erst einmal ein wenig die Hoffnung zu nehmen scheint.

Ich arbeite als Psychologischer Psychotherapeut im Bezirk Neukölln-Nord (Berlin) und habe quasi tagtäglich mit der beschriebenen Stimmung in irgendeiner Form zu tun. Es ist schon erschreckend, wie wenig die offizielle Politik sowohl mit dieser Stimmung als auch und besonders mit deren Auswirkung auf die Jugendlichen anfangen können. Es fällt ihnen nichts Besseres ein, als ein Verbot von Egoshootern – insbesondere von „Counterstrike“ – zu fordern, weil sie doch tatsächlich meinen, diese Spiele würden die Gewalt hervorbringen, deren Ergebnis sie eher sind.

Kein unter halbwegs „normalen Bedingungen“ aufgewachsener Jugendlicher käme auch nur im Traume darauf, nach einem solchen Spiel loszuziehen und Leute abzuknallen. Die Spieler wissen wohl zu unterscheiden, was Spiel ist und wo die Realität beginnt. Ich gehe sogar so weit, dass diese Spiele – in welchen man so richtig seine Wut, seinen Frust und seinen Hass virtuell herauslassen kann – eher verhindern, dass mehr Gewalttaten wie diese in Erfurt stattfinden. Sie haben auch eine kathartische Wirkung, sind – übrigens – in der Psychotherapie mit Jugendlichen erfolgreich einsetzbar und sind eben „nur“ Spiele.

Reines Imitationslernen, so wie es nunmehr allenthalben angenommen wird, findet auf diese Weise jedenfalls nicht statt. Dafür gibt es eher wissenschaftlich fundierte Theorien, als für das Gegenteil. […]

DIETER BAUMANN, Psychologischer Psychotherapeut, Berlin

Die Analyse deckt sich weitgehend mit meinen Erfahrungen aus Beruf und Privatleben. Eine kurze Geschichte: Als mein kleiner Neffe drei Wochen in der Grundschule war, fragte beim ersten Elternabend eine besorgte Mutter, warum die Parallelklasse im Schreiben schon zwei Buchstaben weiter sei.

THOMAS BRAUER, Pulheim

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