: Eine Scheiße ist`s mit dem Kontrollverlust
Mit 45 Jahren auf das nahe Ende schauen: In „L. King of Pain“ stellt sich der Theaterregisseur Luk Perceval in Hannover der Angst vor dem Alter
Was für ein trauriges Stück. Nur: Das Mitgefühl stockt. Man verliert die Geduld mit diesem cholerischen Alten. Er ist ein Tyrann, erpresst Gefühle. Der Schlag trifft ihn, wenn sie ihn nicht lieben, die Töchter. Er wird unflätig, obszön, sexistisch. Schielt in die Unterhose, ob sich da noch was bewegt. Schreit und schweigt ungemütlich. Entschuldigt sich und bereut; bittet um Verzeihung bis zur Peinlichkeit. Beklemmend ist seine Vaterliebe; beklemmend die Trauer um seine gestorbene Frau.
Der Schauspieler Thomas Thieme, der mit dem flämischen Regisseur Luk Perceval schon in „Schlachten!“ zusammengearbeitet hat, spielt für ihn jetzt L., einen namenlosen König der Schmerzen. Einmal sagt er minutenlang nichts anderes als „Scheiße“. Anfangs wütend, später trostlos. Das ist schlimmer, als wenn Robert De Niro 100-mal hintereinander „Fuck“ brüllt. L., schwer atmend, die Brille verrutscht, dreht sich dabei im Kreis und wird ausgezogen von seinen Freunden und in einen Kittel gesteckt, der hinten offenklafft. „Scheiße“, das ist die Aggression, die ein ganzes Heer befehlen und Länder besetzen möchte, um zu zeigen, dass mit ihm, L., der sich einst König Lear nannte, noch zu rechnen ist. „Scheiße“, das ist auch die Furcht vor dem Kontrollverlust, selbst über den eigenen Körper. L. schaut nach, ob er sich dabei eingeschissen hat. Bloß noch die eigene Verdauung zu beobachten, das ist die größte Demütigung.
„Wer kann mir sagen, wer ik bin? Kennt mich jemand hier? Nee, ik ben niet Lear. Is dit Lears gang, dit seine Sprache, sind dit zijn Ogen, is dit zijn kop?“ Manchmal ist L. sich nicht sicher, König Lear zu sein; manchmal scheint er nur ein alter Mann, der vergesslich und krank, abgeschoben ins Altersheim, die Rolle von König Lear bloß benutzt, um seine maßlose Enttäuschung hinauszubrüllen: über die undankbare Welt, die ihn vergessen hat. Zeit hat er jetzt viel, aber sie ist nichts mehr wert. Die anderen vergehen vor Ungeduld, wenn wieder einer seiner Sätze nur schwer zur Welt kommt. Sein Zeitmaß ist nicht mehr ihres. Das beschreibt die Inszenierung genau und opfert der Langsamkeit die Spannung.
Luk Perceval, der mit seiner Münchner Inszenierung von Jon Fosses „Traum im Herbst“ gerade auf dem Berliner Theatertreffen zu Gast ist, eroberte mit „Schlachten!“, einem zwölfstündigen Marathon durch Shakespeares Geschlechterkriege, die europäischen Theaterhäuser. Er wird manchmal zu den Protagonisten einer jungen Generation gezählt, die mehr Wert auf die strukturelle Komposition denn auf den Text legt. In „L. King of Pain“ lässt er die Angst vor dem Alter an sich ran, ohne sie in sichere Bilder zu bannen. „Ich bin inzwischen 45 und beginne zu realisieren, dass ich in zehn Jahren nicht nur 55 bin, sondern in 20 Jahren 65“, überlegte er. „Jeder Mensch ist verurteilt zu verlieren. Man kann das akzeptieren, sodass man nicht all seine Energie im verzweifelten Kampf gegen den Verlust verschwendet.“ L. aber akzeptiert das nicht. Er verschwendet letzte Kräfte vergeblich. „Sch, sch, sch“ wollen die anderen ihn beruhigen.
Die anderen, dazu gehört ein Sänger (Edgar Schäfer), der mit „Sah ein Knab ein Röslein stehen“ und „Abendstille“ tief ins trostspendende Fach greift. Es sind Höflinge, Ritter, Narren, freundlich assistierende Mitinsassen des Altersheims – so genau weiß man das nie. Manchmal versuchen sie, L. aufzuheitern mit Witzen, Kunststückchen und kurzen philosophischen Diskursen. Manchmal erheitern sie das Publikum, wenn sie dort, wo L. sich in einer Schlacht von King Lear wähnt, den Theaterdonner übernehmen und wie die sieben Schwaben hintereinander aufgereiht mit einem Brett in eine Wand aus Blech hineinrasen. In solch kurzen Momenten splittert die ganze Verzweiflung weg. Das Theater scheint dann eine freundlich-therapeutische Veranstaltung, für L. von seinen Freunden erdacht, um ihm bei der Artikulation seines Kummers zu helfen. Aber dieser Schimmer von Trost verlischt immer wieder.
„L. King of Pain“ ist eine Koproduktion des Theaters Het Toneelhuis aus Antwerpen, das Perceval seit 1999 leitet, des Schauspiels Hannover und des Schauspielhauses Zürich. Aus allen drei Häusern kommen die Schauspieler. Aus der Not, bei den Proben zwischen Flämisch, Niederländisch, Deutsch und Französisch zu vermitteln, versuchte Perceval eine Tugend zu machen und das Stück zwischen den Sprachen anzusiedeln, die so zugleich historische und soziale Milieus beschreiben könnten: Wenn sich L.s Töchter und Schwiegersöhne zum Beispiel über seinen Kopf hinweg über die Probleme mit dem Alten verständigen wollen, sprechen sie ein Französisch der Aufsteiger, L. selbst mischt ein paar Brocken anachronistisches Mittelhochdeutsch ein. Europäische Geschichte zu Shakespeares Zeiten und in der Gegenwart bildet sich in der Zuteilung des Sprachvermögens ab. Das ist sehr schön im Programmheft erklärt; nicht zuletzt könnte das Stück als Kritik an Globalisierung und Modernisierung lesbar werden. Allerdings löst die Inszenierung die theoretischen Versprechen nicht ganz ein. Zu sehr sind die Rollen der anderen auf Stichwortgeber für L. zusammengestrichen.
KATRIN BETTINA MÜLLER
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