auf augenhöhe: ULI HANNEMANN über das Bierdosenfest
Grün, Weiße und Braune in friedlicher Koexistenz
Jedes Jahr fällt es zufällig genau auf den Tag, den die Christen Pfingstsonntag nennen: das große Bierdosenfest. Hunderttausende säumen in einer eindrucksvollen Prozession Dosenbier trinkend die Straßenzüge vom Hermannplatz bis zur Yorckstraße, wo sich endlich der Würstchenstand befindet. Die Schlange scheint sich kaum zu bewegen, gerät immer wieder ins Stocken. Am Südstern bekommt jeder ein Brötchen in die Hand gedrückt, ab der Baerwaldstraße halten die Wartenden Servietten, Höhe Mehringdamm wird abkassiert. Warum die Leute das Schlangestehen so lange klaglos ertragen, erklärt sich aus dem feinen Rahmenprogramm.
Da haben sich die Betreiber des Würstchenstandes wirklich nicht lumpen lassen: In Schrittgeschwindigkeit fahren Lastwagen mit Tanzgruppen vorbei. Von einigen sind fremdländische Gesänge zu hören. Sie klingen tröstend: „Auch ihr werdet irgendwann ganz vorne angekommen sein und dann gibt es lecker Thüringer Rostbratwurst“, scheinen die Lieder zu beschwören, „oder Krakauer, oder Knobiwurst – ganz egal – und alle krass voll mit fett Senf, wartet’s nur ab …“
So multikulturell wie die Würste kommen auch die Bierdosen daher. Sie sind der eigentliche Grund des Festes und fast jeder trägt eine oder mehrere in der Hand. Grüne Dosen, weiße Dosen, braune Dosen: Bierdosen verschiedenster Couleur und Sorte werden in friedlicher Koexistenz nebeneinander ausgetrunken. Wohl daher rührt auch die Verballhornung „Karneval der Kulturen“, die angeblich der Volksmund dem Bierdosenfest verpasst haben soll. Jaja, die berühmte Berliner Schnauze …
Die gesamte Zeremonie wirkt so feierlich wie unorthodox – das unorthodoxe Bierdosenfest ist praktisch das genaue Gegenstück zum orthodoxen Osterfest. Ein Telefonladen, per se ohnehin schon Hort der Kommunikation unter den Menschen verschiedener Länder, hat mehrere Europaletten Dosenbier in seine Räume eingelagert. Die Angestellten verteilen, Messdienern gleich, das köstliche warme Nass gegen einen geringen Obulus unter dem Volk. Es ist ein harmonisches Trinken, das erklärt, warum eine halbe Million Menschen hier zusammengekommen sind, um gemeinsam an einem einzigen Würstchenstand anzustehen: Der Weg ist das Ziel und die Speisung der 500.000 erfolgt praktisch wie von selbst, eben auf diesem Weg und eben durch Dosenbier. Der Würstchenstand ist nicht wichtig. Er ist nur ein Symbol. Ein Symbol für was – für das Ende? Für den Tod? Für Krebs erregende Stoffe? Egal für was – nach ein paar Dosen ist alles völlig egal. Nach einer Weile beginnt das Rahmenprogramm allerdings ein bisschen zu nerven – ständig dieses Gesinge und Gehopse und Gefahre. Ist ja im Grunde echt gut gemeint, aber könnten die nicht auch mal was anderes zeigen – ein paar Stunts zum Beispiel oder Verfolgungsjagden? Außerdem beschleicht uns der Verdacht, dass die Trachtengruppen nur schneller zum Würstchenstand wollen, und damit wäre der Sinn des Bierdosenfests praktisch ad absurdum geführt.
Die Zukunft des Fests steht leider sowieso in den Sternen: Durch ganz Europa geht ein vernehmlicher Rechtsruck. Sollte an dessen Ende auch noch die Einführung des Dosenpfandes liegen, werden Tage wie diese schon bald für immer der Vergangenheit angehören. Dann können wir zwar immer noch Pfingsten feiern, aber ein richtiger Ersatz für das Bierdosenfest wäre das natürlich nicht.
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