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cannesFortgeschrittene Eintrübung des Wirklichkeitssinns

Schöne Frauen statt gute Filme

Was ist das nur für ein Wettbewerb? Wäre, was im Verlauf von Filmfestivals aufzutreten pflegt und Kritiker wie Filmfiguren gleichermaßen umtreibt, wäre also die Eintrübung des Wirklichkeitssinns fortgeschritten, man könnte meinen, gar nicht in Cannes zu sein, sondern einem B-Festival in einer beliebigen Küstenstadt beizuwohnen. La Croisette, das gute Wetter und die Massen von Schaulustigen wären Simulationen, und angereist wären zwar Regisseure von Rang und Namen, aber sie hätten konspiriert: Jeder stellt einen Film vor, der nur Spuren von Begabung und Vorstellungskraft beinhaltet, und schaut, ob er trotzdem beklatscht wird. Im Fall von Olivier Assayas „Demonlover“ war das erstaunlicherweise der Fall: Sowohl Le Monde als auch Libération waren voll des Lobs. Die Rezensionen betonten die Schönheit der weiblichen Figuren: ein Kriterium, das nicht unterschätzt werden sollte.

David Cronenbergs „Spider“ machte die Sache nicht besser. Der Vorspann überzeugte mehr als die folgenden 98 Minuten. Nahaufnahmen von Bildern, die entstehen, wenn man ein Blatt mit Farbe bekleckst, es in der Mitte faltet und die beiden Seiten aufeinander drückt: Insekten, Schädel, eingepuppte Schmetterlinge, Wesen, die aus einer anderen Dimension zu uns sprechen. Einer Dimension, die Cronenberg für seine Figuren behauptete, aber nicht einlöste. Wenn er am Ende glaubt, mit der Schlussvolte für Überraschung zu sorgen, so täuscht er sich: Jeder halbwegs erfahrene Kinogänger hat die Identitätsverwirrungen, die Spiegelungen der unterschiedlichen Erzählstränge und die Doppelungen der Figuren rasch durchschaut.

Das gilt auch für Atom Egoyans „Ararat“, der – außer Konkurrenz – als Teil der „Sélection Officielle“ läuft. Egoyan hat sich einem Sujet zugewandt, das ihm am Herzen liegt, da es seine eigene Familiengeschichte ist: dem Völkermord an den Armeniern, während des Ersten Weltkriegs von türkischen Soldaten vollzogen. Ein vergessener Genozid, an den zu erinnern sich der Film zur Aufgabe macht – auf Kosten der schmerzhaften Ambivalenz, die frühere Filme von ihm wie „The Sweet Hereafter“ auszeichnete. Dafür treibt die Spiegelung von Familien- und politischer Geschichte so sonderbare Blüten, dass man sich fragt, woher Egoyan in seinen vorangegangenen Filmen die Dichte bezog.

Mike Leigh betreibt mit „All or Nothing“ business as usual. Triste Verhältnisse in einem England, das sich die Arbeiterklasse ausgetrieben hat. Jetzt sind alle Dienstleister, aber das Elend bleibt unverändert. Da gibt es sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, ungewollte Schwangerschaft, Alkoholismus, Magersucht und Fettleibigkeit, jugendliche Gewalttätigkeit und eine Liebe, die mit den Jahren hinter den Kulissen der Sozialwohnung verschwand. Unklar bleibt, wie Leigh zu seinen Verliererfiguren steht. Solange sie sich gegen seinen unbedingten Willen zur Misere nicht auflehnen, scheint er’s zufrieden.

Wer noch? Michael Winterbottom? Eine Kollegin aus London mochte „24 Hour Party People“ sehr. „Very british“, sagte sie. Doch wenn man den Protagonisten, den Musikjournalisten, Plattenproduzenten und Clubbetreiber Tony Wilson, der New Wave und Acid House in Manchester stark machte, nicht möge, tauge der ganze Film nichts. Das ist richtig: Wilson (Steve Coogan) mag beteuern, dass nicht er im Mittelpunkt stehe – das ist nur Winterbottoms spezifische Form von Ironie. Man erfährt mehr über Wilson als über die Musik und die Partys. Joy Divisions „She lost control again“, „Transmission“ oder „Love will tear us apart again“ werden angespielt und geschnitten, bevor sie in Fahrt kommen; das ist so traurig wie die vielen Superlative, die Wilsons Rede überfließen lassen. Was macht Ken Loach? „Sweet Sixteen“ verzichtet zwar auf die klaren Fronten, die „Bread and Roses“ kennzeichneten, zugleich aber auch auf den unerträglichen Loach-Moment, die Schlüsselszene, die anzuschauen schmerzt und doch die eigentümliche Qualität dieses engagierten Kinos ausmacht.

CRISTINA NORD

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